Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
Vom Netzwerk:
verdutzt. Wie konnte sie diese trostlose kleine Stadt einen Segen nennen? Waren eine abgelegene Scheune mitten im Winter und die Zuständigkeit für zwei Waisenkinder alles, was diese Frau brauchte, um glücklich zu sein? »Waren Laure und ich Ihre ersten Schülerinnen?«, fragte ich.
    Miss Skerry wurde rot. »Ja, obwohl ich das eurer Großmutter nicht gesagt habe. Sie sollte nicht wissen, dass ich keine Erfahrung hatte. Ich hatte ja bis dahin bei meinem Vater gewohnt. Es wäre mir nie eingefallen, dass ich einmal Gouvernante werden könnte. Ich war dazu gezwungen, so ähnlich wie Jane Eyre.«
    »Aber es hat sich als Segen entpuppt?« Die Frage stellte ich aus eigener Betroffenheit, wenn Miss Skerry das auch sicher nicht ahnen konnte.
    Meine ehemalige Gouvernante lachte wieder. »Eure Großmutter hat mich in ihr Haus und ihr Herz aufgenommen, Agnes. Sie hat mir Büchergeld gegeben. Und dann war da dein Mikroskop in der Scheune, und du und ich, wir konnten fast jeden Tag durch die Wälder streifen.« Miss Skerrys Augen leuchteten. »Mein Vater war sehr lange krank gewesen. Ich glaube, ich hatte vergessen, was Leben ist.«
    »Dann sind Sie also gern Gouvernante?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    Miss Skerry warf mir einen kurzen Blick zu. »Das wäre zu viel gesagt, Agnes. Ich meine – St. Andrews East war ein Glanzlicht.« Sie drehte sich um, stand ganz still da und schaute durchs Fenster in den Garten mit der wehenden Wäsche. »Es ist eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, sagte sie langsam. »Und es hat seine Freuden, wenn man sie sucht.«
    Ich seufzte. Ich konnte mir nicht vorstellen, auf Gedeih und Verderb anderen Leuten ausgeliefert zu sein, mich um ihre Kinder zu kümmern, an ihrem Tisch zu essen und in ihrem Dienstbotenbett in einem Raum neben der Küche zu schlafen. Mitleid mit Miss Skerry, das war es, was ich empfand – tiefes Mitleid.
    Miss Skerry drehte sich zu mir um. Ihren Mund umspielte ein kryptisches und nicht ganz edelmütiges Lächeln. »Mach dir um mich keine Gedanken, Agnes White. Es gibt schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen, als dem Kind einer anderen Frau den Hintern abzuwischen.«
    Ich starrte auf den Bettpfosten und merkte, dass ich vor Verlegenheit rote Wangen bekam. Konnte sie Gedanken lesen?
    »Du würdest eine hervorragende Gouvernante abgeben. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie du Eichhörnchen jagst und darauf bestehst, dass deine Schützlinge die Innereien analysieren. Die Mütter würden ein großes Geschrei machen, aber du würdest sie vermutlich herumkriegen. Mit deinem McGill-Diplom wärst du sehr gefragt. Apropos McGill …« Sie schaute mich mit spöttischen Eulenaugen an. »Deine Großmutter hat mir erzählt, dass demnächst deine Examensfeier ist.«
    Ich nickte.
    »Und du hast entschieden, nicht hinzugehen.«
    Ich schloss die Augen. Schon beim Gedanken an die McGill wurde mir schlecht.
    »Geh hin, Agnes. Das bist du dir schuldig. Zeig, dass du dich nicht geschlagen gibst.«
    »Aber ich bin geschlagen. Stimmt doch, oder?«
    Die Gouvernante sah mich fast grimmig an. »Du unterschätzt dich.«
    »Sie überschätzen mich.«
    Miss Skerry nahm ihre Brille ab und putzte sie bedächtig. »Da irrst du, Agnes White. Ich glaube, ich sehe dich sehr genau.« Sie setzte die Brille wieder auf.
    Ich fing an zu weinen. Die Gouvernante machte keine Anstalten, mich zu trösten. Stattdessen lächelte sie und begann, von ihrer neuen Stellung zu erzählen. Sie war erst kürzlich wieder nach Montreal gezogen und sagte, wie schön es sei, wieder in Quebec zu leben.
    Ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Meine Tränen waren versiegt, aber meine Nase war verstopft, und die Haut um meine Augen fühlte sich wund an. Ich hasste Miss Skerry, die über ihre derzeitigen Schützlinge schwatzte – zwei Mädchen, wie Laure und ich, nur dass sie beide wissenschaftlich hochbegabt waren. Diese Stellung habe man ihr unter anderem wegen ihrer naturkundlichen Kenntnisse angeboten. Der Vater der Mädchen habe für das Schulzimmer ein gebrauchtes Mikroskop erworben. »Es ist eine aufgeklärte Familie«, sagte Miss Skerry. »Der Vater ist ein bekannter Montrealer Arzt.«
    Ich hielt im Augenreiben inne.
    »Er weiß natürlich von dir und hat gedacht, du bist eine kleine Xanthippe – bis ich die Dinge richtiggestellt habe.« Sie tätschelte durch die Decke hindurch mein Bein und lachte, als hätte sie einen guten Witz erzählt. »Ich musste bei meiner Seele schwören, dass du ein überaus reizendes, ruhiges

Weitere Kostenlose Bücher