Das Geheimnis der Herzen
Medizinstudium zuließ. Ich studierte Geburtshilfe und Gynäkologie bei Professor Wyder und stieg in der kantonalen Frauenklinik bis zum Rang einer Unterassistentin auf. Außerdem arbeitete ich in einem Pathologie-Labor und besuchte die Vorlesungen von Dr. Forel, einem Hypnose-Spezialisten, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dass er Störungen im Seelenleben der Schweizer behandelte.
Von Zürich ging ich nach Wien, dem anerkannten Zentrum der medizinischen Wissenschaft, wo ich bei Albrecht Pathologie studierte und Innere Medizin bei Ortner. Ich kannte ihre Bücher, aber ich hätte niemals zu hoffen gewagt, dass ich sie persönlich kennenlernen würde. Dass ich sehr gut mit dem Mikroskop umgehen konnte, wurde schnell bemerkt, und ehe ich mich versah, war ich die ausländische Starstudentin, höher geachtet als meine männlichen Kollegen. Bezahlte Anstellungen hatten geholfen, meine Reisekosten zu bestreiten.
Ich vermisse es, Deutsch zu sprechen, dachte ich und ging etwas langsamer, sodass der pfeifende Mann mir bald weit voraus war. Und ich vermisste auch die Gesellschaft von Männern. Vor allem aber vermisste ich die Arbeit, dieses Gefühl, abgesehen von meinen eigenen kleinen Sorgen und Nöten etwas zu haben, dem sich mein Geist und Verstand Tag für Tag zuwenden konnten.
In der Sherbrooke Street bog der pfeifende Herr nach rechts ab. Ich hörte ihn nicht mehr richtig. Er hatte eine vereinfachte Version von »Eine kleine Nachtmusik« gepfiffen, die Laure immer an Weihnachten in St. Andrews East für uns spielte. Allerdings war es schon eine Weile her, dass Laure das Klavier berührt hatte. Es ging ihr nicht besonders gut. Während meiner dreijährigen Abwesenheit hatten ihre Briefe immer ganz munter geklungen. Sie waren zwar meistens ziemlich kurz, aber Laure hatte seit jeher die Musik lieber gehabt als die Sprache. Erst bei meiner Rückkehr sah ich, was mit meiner jüngeren Schwester los war.
Gleich nachdem sie Huntley geheiratet hatte, war sie schwanger geworden, worüber sich alle sehr freuten. Doch im sechsten Monat hatte sie das Kind verloren. Ich wusste, was eine so späte Fehlgeburt bedeutete. Es war eine Geburt – die gleichen Schmerzen, das gleiche Atmen und Pressen, aber am Ende der ganzen Qualen stand statt des Lebens der Tod. Laure erzählte mir, dass ich eine Nichte gehabt hätte. Sie hatte das Kind gesehen, ein perfektes Geschöpf, hübsch wie eine Puppe, bis auf die graue Haut.
Seither war es mit Laure ständig bergab gegangen. Sie hatte zwischendurch immer noch gute Momente – das mussten die Tage gewesen sein, an denen sie mir geschrieben hatte, aber von Huntley hatte ich jetzt erfahren, dass es ganze Wochen gab, in denen seine Frau nicht aus dem Bett aufstand. Und dann wieder war sie wochenlang so nervös und gereizt, dass er sie kaum wiedererkannte. Er gewöhnte sich an, die Abende in seinem Club zu verbringen. Manchmal, so hörte ich, schlief er auch dort.
Großmutter sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Eine Ehe könne schwierig sein, zumal in den Anfangsjahren. Großmutter war davon überzeugt, dass Laure und Huntley einen Weg finden würden. Ich war da weniger optimistisch. Ich hatte Angst um meine Schwester, die so zart war wie meine Mutter. Ich war auch besorgt um Großmutter, die allein in der Priory lebte. Das Haus musste dringend renoviert werden.
Kaum hatte mein Schiff in Montreal angelegt, begab ich mich zu Laure. An dem Tag ging es ihr allerdings so schlecht, dass sie keinen Besuch empfangen konnte, und am nächsten Tag war es auch nicht besser. Es dauerte eine ganze Woche, bis ich sie endlich sehen durfte.
Ich schwor, dass ich die Priory herrichten würde, weil sie schrecklich vernachlässigt worden war, aber wie sich zeigte, war es extrem schwer, das notwendige Geld zusammenzukratzen. Seit ich mein Schild aufgehängt hatte, waren genau drei Patientinnen in meine Praxis in der Mansfield Street gekommen. Die erste war die Frau, die den Raum putzte und mit der ich die Dienstleistungen austauschte. Die zweite war die treue Felicity Hingston. Und die dritte war Laure, die eine Heilung der Seele, nicht des Körpers brauchte.
Ich überquerte die Sherbrooke Street, wich einer Straßenbahn aus und kam zum Eingang der McGill-Universität. Huntley Stewart hatte übrigens recht gehabt mit den Straßenbahnen. Sie waren jetzt elektrisch, aber dadurch nicht weniger gefährlich als die alten, die von Pferden gezogen wurden. Inzwischen fuhren hier auch Autos, zusätzlich zu
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