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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Montreal, hatte eine kleine medizinische Fakultät, an der Juden und sonstige von der McGill ausgeschlossene Gruppen studieren konnten. Aber leider galt das immer noch nicht für Frauen. Der dortige Dekan hatte sich auf dem Höhepunkt meiner McGill-Auseinandersetzung lautstark gegen weibliche Ärzte ausgesprochen.
    Ich konnte vermutlich Arbeit als Gouvernante finden. Bei diesem Gedanken überkam mich eine so abgrundtiefe Verzweiflung, dass ich erschöpft wieder zurücksank, das Gesicht zum Fenster gewandt, die Arme um den Bauch geschlungen. Die Sonne schien warm auf meine Haut. Großmutter war immer noch draußen, aber jetzt kam sie aus irgendeinem Grund über den Rasen aufs Haus zu, obwohl die Wäsche erst zur Hälfte aufgehängt war. Sie rief Laure zu sich. Ich beobachtete das mit wachsender Verwunderung, vergaß die merkwürdige Szene aber sofort wieder, sobald die beiden außer Sicht waren. Als es an meine Zimmertür klopfte, war ich schon wieder eingeschlafen. Ich dachte, es sei Großmutter, die meine Bettwäsche holen wollte, aber der Kopf, der durch den Türspalt lugte, war braunhaarig, nicht weiß, und hatte einen vertrauten Derby-Hut auf.
    »Miss Skerry!«, rief ich und vergaß für einen Moment meinen ganzen Kummer. Es war vier Jahre her, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Als ich auf die McGill gegangen war, hatte sie bei Großmutter aufgehört und war nach Ontario gezogen. Zuerst hatten wir uns noch regelmäßig geschrieben, doch bald war ich an der Universität so beschäftigt gewesen, dass die Korrespondenz einschlief. Meine letzte Information war, dass sie in Ottawa bei der Familie eines Richters arbeitete.
    »Agnes«, sagte sie, während sie den Hut abnahm und kurzsichtig in meine Richtung blinzelte, »ich bin sofort gekommen, als ich hörte, du seist krank.«
    Mein Lächeln erlosch. Nur der Himmel mochte wissen, wie ich aussah, nachdem ich einen Monat im Bett gelegen hatte. Und der Geruch musste auch ziemlich schlimm sein. Ich versuchte wieder zu lächeln, aber es war bestimmt nicht sehr überzeugend.
    Wortlos begann Miss Skerry, mein Bettzeug glatt zu streichen. Sie hievte mich in eine sitzende Position und schüttelte die Kissen auf, sammelte dann Taschentücher und Schreibzeug vom Boden auf.
    Ich schaute ihr zu. Ich hatte auch einmal solche Energien besessen – dumpfe, animalische Energien, die blind immer weitermachten, bis Krankheit oder Tod dem Ganzen ein Ende setzten. Jetzt erschöpfte es mich schon, wenn ich sah, wie Miss Skerry umherhuschte und Ordnung schaffte. Die ganze Plackerei, dieses Bücken und Aufheben, Glätten und Räumen – wie vergeblich mir das alles erschien! Ordnung und Sinn waren Lügen, hatte ich festgestellt. Die Menschen mühten sich ab, um am Ende doch nirgends hinzugelangen. Konnte Miss Skerry mit ihrem scharfen Blick und ihrem noch schärferen Verstand das nicht sehen?
    »Geben Sie eigentlich nie auf?«
    Die Gouvernante hielt inne, ein Tablett mit unberührtem Toast und Tee in den Händen. Zu meiner Überraschung lachte sie. »Einmal habe ich es getan«, sagte sie. »Und in meinem Fall war das genug. Aus dem einen Mal habe ich gelernt.«
    »Wann war das?«, fragte ich, schockiert und mehr als neugierig.
    »Direkt nach dem Tod meines Vaters.«
    »Da haben Sie getrauert«, sagte ich. »Das zählt nicht. Nach dem Tod eines Elternteils hat man das Recht zusammenzubrechen.«
    Miss Skerry sah mich nachdenklich an. »Ja, aber es ging nicht nur um seinen Tod. Ganz plötzlich gehörte ich nirgendwo mehr hin. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Form, welche Gestalt mein Leben annehmen sollte.«
    Mein Atem setzte aus, als ob meine Lunge ihre Funktion eingestellt hätte. »Und was ist dann passiert?« Ich war wie ein Kind, das um eine Gutenachtgeschichte bettelt.
    »Dann kam ich nach St. Andrews East.«
    »In die Priory?« Ich saß jetzt aufrecht. »Zu uns? Heißt das, Ihr Vater war gerade erst gestorben? Das wusste ich nicht!«
    »Ich wollte damals nicht darüber reden«, sagte sie und trug das Tablett auf den Flur hinaus, wodurch sie ihr Gesicht vor mir verbergen konnte.
    »Sie haben gar keinen traurigen Eindruck gemacht«, sagte ich, als sie wieder ins Zimmer kam, und dachte an die junge Frau mit dem ironischen Humor, die mir geholfen hatte, das Eichhörnchen zu sezieren. Nicht viele Menschen hätten es an Energie und Fantasie mit ihr aufnehmen können.
    »St. Andrews East war ein Segen, Agnes. Es war das Beste, was mir passieren konnte.«
    Ich musterte sie

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