Das Geheimnis der Herzen
Clarke würde mich dafür bezahlen.
Als der Dekan nach dem Mittagessen zurückkam, hatte ich schon angefangen zu fegen. Meinen dunkelgrauen Rock hatte ich zusammengeknotet, damit der Saum nicht zu staubig wurde, und um den Kopf hatte ich mir ein buntes Tuch geschlungen. Mehrere Gläser standen bereits aufgereiht auf dem Arbeitstisch, ein erster Schritt, um das Durcheinander zu lichten. Dr. Clarke nieste ausführlich.
»Ich fürchte, ich habe viel Staub aufgewirbelt«, sagte ich und wedelte mit der Hand durch die trübe Luft.
Er lachte. »Ist das nicht Ihre Spezialität, Dr. White?«
Ich wollte gerade protestieren, als ein zweiter Mann im Türrahmen erschien und mich verstummen ließ. Ich erkannte ihn sofort.
»Ich dachte, Sie sollten einander kennenlernen«, verkündete Clarke leutselig.
Dr. Mastro trat nicht näher, sondern blieb auf der Schwelle stehen. Seine breiten Schultern hatten sich etwas gerundet, die Hände hielt er in den Taschen vergraben.
»Wir hatten bereits das Vergnügen«, sagte ich und neigte zur Begrüßung den Kopf. Ich achtete darauf, dass meine Stimme herzlich klang.
»Ich habe soeben von Ihrer Anstellung erfahren«, sagte er. »Entschuldigen Sie meine Überraschung.«
Dr. Clarke gab ein kurzes, verlegenes Lachen von sich. Offenbar hatte er den Vorsitzenden der Physiologie bei seiner Entscheidung übergangen. Und ebenso offensichtlich war es, dass Dr. Mastro nicht entzückt war. »Dr. White ist höchst qualifiziert …«
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Mastro und verlagerte sein Gewicht, als wäre er ein Boxer und wollte auf uns losgehen. Er musterte mich unverwandt. Meine Erscheinung glich eher der einer Putzfrau als der eines Mitglieds der medizinischen Fakultät. Dann ging er an mir vorbei und trat mitten hinein in das Durcheinander. »Nun gut«, sagte er nach einer Pause. »Irgendjemand muss das ja machen.«
»Und Sie sind oft weg, Ed«, plädierte Dr. Clarke. »Sie können es nicht übernehmen. Ich dachte, Sie sind erleichtert.«
Dr. Mastro lächelte. »Ja, selbstverständlich bin ich das.« Er knallte die Hacken zusammen wie ein Soldat und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn Sie beide mich jetzt entschuldigen würden – ich muss eine Vorlesung vorbe reiten.«
Als er sich entfernte, klackten seine Schuhe über die Fliesen. Dr. Clarke lachte wieder, aber ich schaffte es nicht, mit einzustimmen. Ich hatte heute Morgen mehr als Staub aufgewirbelt. Das Museum war voller Geister, die alle erwachten.
III
DAS HOWLETT-HERZ
Das Herz kann sich erweitern zu einer hohlen Ausbuchtung .
– MAUDE ABBOTT, »ANGEBORENE HERZFEHLER«
10
April 1899
I ch hatte den ersten Winter an der McGill überstanden, aber außer Dr. Clarke hatte ich unter meinen Kollegen keine Freunde gewonnen. Niemand blieb auf dem Gang stehen, um mit mir zu plaudern, und als ich mich ein einziges Mal während der Kaffeepause ins Dozentenzimmer wagte, starrten mich alle so fassungslos an, dass ich mich nicht traute, es zu wiederholen. Meine Anwesenheit an der McGill irritierte sie. Ich war nicht eingestellt worden, um zu lehren und zu forschen, und doch wurde ich bezahlt. Zwar sagte nie jemand etwas Gehässiges zu mir, alle hatten viel zu viel Respekt vor dem Dekan, um offen ihre Missachtung zu zeigen. Aber untergründig war trotzdem ein gewisser Widerstand da. Keiner, außer Dekan Clarke, sprach mich mit der förmlichen Anrede »Doktor« an. An meiner Tür befand sich kein Schild mit meinem Namen und dem Titel. Ich gehörte einfach nicht dazu.
Ich wickelte meinen Schal fester um den Hals. Das Fenster hatte an einer Seite einen Riss, wodurch der Ausblick auf den Campus verzerrt wurde, und zudem drang kalte Zugluft herein. Im November hatte ich mich bei Mastro darüber beschwert, aber bisher war nichts unternommen worden. Es war die geringste seiner Sorgen. Er hielt sich oft in Saranac Lake auf, und deshalb blieb es mir überlassen, das Museum zu führen. Und inzwischen war es April geworden. Zwar würde es voraussichtlich nicht mehr schneien, aber kalt war es immer noch.
Die Scheibe zitterte. Ich war mir sicher, dass sie in Kürze herausfallen würde. Einen Moment lang hielt ich inne und schaute mich in meinem kleinen Königreich um. Weil es draußen bewölkt war, wirkten die Ausstellungsstücke farbloser als sonst. An sonnigen Tagen schimmerten die Gläser, und ihr Inhalt leuchtete. Ich hatte hart gearbeitet, seit ich den Raum im September das erste Mal betreten hatte. Jedes einzelne Glas hatte
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