Das Geheimnis der Herzen
Mitglied des Zulassungskomitees, das mich und die riesige Summe, die für mein Anliegen zusammengekommen war, abgewiesen hatte. Eine Glocke läutete, der Gang leerte sich, und es wurde so still, dass ich eine Uhr ticken hörte, in dem Raum in der Nähe, der als Empfangszimmer zu dienen schien. Ich kniff die Augen zusammen, um die Uhr besser sehen zu können. In dem Moment kam Dr. Clarke aus seinem Büro und sah mich auf meinem Stuhl sitzen. Er breitete die Arme aus, als wollte er mich umarmen, überlegte es sich dann aber anders und schwang die Hände auf den Rücken. »Willkommen, Dr. White.«
In seinem Büro standen die Fenster weit offen, und man hörte das Gurren der Tauben draußen im Gebälk. Dekan Clarke hatte die Möbel umgestellt und seinen Schreibtisch auf die Seite geschoben, sodass die Besucher auf die Bäume hinausblicken konnten – Pappeln, die, auf dem Rasen in einer Reihe gepflanzt, ins helle Morgenlicht ragten.
»Ich habe Tee für uns bestellt«, sagte er.
Wie anders das heute war als beim letzten Mal, als der Raum erfüllt wurde von Dr. Mastros Zigarrenrauch und von Dr. Hingstons Feindseligkeit. Die Sekretärin, die, wie ich inzwischen wusste, Mrs Burke hieß, brachte ein Tablett mit Tee herein. Während ich an meiner dampfenden Tasse nippte, brachte mich Dr. Clarke auf den neuesten Stand und berichtete, was sich in der Fakultät in den letzten Jahren ereignet hatte. Von dem Komitee, das meine Zulassung abgelehnt hatte, war nur noch einer da: Dr. Mastro. Er war jetzt der Leiter der Physiologie-Abteilung. Dr. Howlett, dessen Position er übernommen hatte, arbeitete in den USA, wo er offenbar ein Vermögen scheffelte und zu Ruhm und Ehren gelangte. Dekan Laidlaw war im Ruhestand, und Dr. Hingston lebte nicht mehr. Diese letzte Information war schon bis zu mir durchgedrungen. Laure hatte mir den Nachruf nach Wien geschickt, woraufhin ich Felicity, die immer noch zu Hause bei ihrer Mutter wohnte, einen unbeholfenen Beileidsbrief geschrieben hatte.
Dr. Clarke verhielt sich mir gegenüber so, als wäre ich eine Kollegin und als stünde es mir zu, dass er sich mit ihr abgab. Das war mir angenehm, aber zugleich fand ich es strapaziös. Ich hatte ein sauberes Kleid angezogen, doch besonders vorteilhaft war es nicht.
Der Dekan war ein gut aussehender Mann, mit den glatten Wangen eines Jungen und mit dichten Haaren, die erst jetzt, mit Ende fünfzig, etwas grau wurden. »Entwaffnend« war das Adjektiv, das einem bei ihm in den Sinn kam. »Gentleman« war das passende Substantiv dazu. Aber in dieser Situation machte er mich nervös. Während unseres ganzen Gesprächs hatte er mir noch nicht in die Augen geschaut. Er blickte erst zur Decke, dann aus dem Fenster. »Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«
Ich stellte meine Tasse ab. Einen verrückten Moment lang dachte ich, er würde sich vorbeugen und mir etwas Unmoralisches vorschlagen.
»Schon seit einigen Monaten«, sagte er nach einer unbehaglichen Pause, »suchen wir jemanden.«
Ich holte hektisch Luft, verschluckte mich und musste husten. Bestimmt hatte ich ihn missverstanden. Die McGill-Universität ließ immer noch keine Frauen zum Medizinstudium zu. Dr. Clarke konnte mir also unmöglich eine Arbeitsstelle anbieten. Die Sonne kletterte genau in diesem Augenblick über die Pappeln, und ich rückte meinen Stuhl wieder in den Schatten.
»Es geht um das medizinische Museum«, fuhr er fort. »Wir brauchen jemanden, der es übernimmt.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Aufgabe ist nicht unbedingt fesselnd, ich weiß, und die Bezahlung …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Wollen Sie mir diese Stelle anbieten?«
»Es tut mir leid, Dr. White.«
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Dr. Clarke entschuldigte sich, weil er mir eine Anstellung an der McGill anbot, die auch noch bezahlt wurde. Er schloss die Türen zu dieser Institution für mich auf! Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen.
»Ich nehme Ihr Angebot an«, sagte ich. Ich musste es noch einmal sagen und dann sogar noch ein drittes Mal, betont langsam, bis er endlich verstand.
In dem Raum war es sehr dunkel. Überall Staub. Dr. Clarke hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. Es gab keine Deckenlampe. »Es tut mir leid, Agnes«, sagte er wieder, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Hierher waren noch keine Stromkabel gelegt worden, und er musste eine Gaslampe anzünden, die alles in ein gelbliches Licht hüllte. Die Fakultätsbüros befanden sich im
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