Das Geheimnis der Herzen
vier Monate gebraucht, um dieses System im Detail auszuarbeiten und es dann auch umzusetzen. Außer den Herzen waren seit dieser Woche sämtliche identifizierten Exponate mit einem Etikett versehen.
Die Präparate, die neu hinzukamen, machten nicht so viele Schwierigkeiten. Es lag stets ein Autopsiebericht dabei, und wenn dieser Bericht missverständlich war, musste ich mich nur an Mastro oder an den zuständigen Arzt wenden. Es waren die älteren Präparate, die mir Kopfzerbrechen be reiteten. Oft fühlte ich mich wie Sisyphus, der versucht, einen Felsbrocken den Berg hinaufzuwälzen – nur damit der Stein wieder herunterrollt und ihn zu zerquetschen droht. Dabei war die Anatomie noch meine leichteste Aufgabe. Viel schwieriger war es, die pathologische Anomalie zu bestimmen. Ich musste die Präparate mit einem Datum versehen, und dafür war es erforderlich, alte Krankenhausakten zu durchforsten, weil ich ja herausfinden wollte, was dort über die Organe notiert worden war. Eine zeitraubende, extrem mühselige Arbeit.
»Fertig!«, sagte ich theatralisch zu Dr. Clarke.
Er lachte und schüttelte mir die Hand. »Sie sind ein wunderbares Mädchen.«
Weil ich Tag für Tag mit den Präparaten herumhantierte, waren meine Finger ganz rau. Schnell zog ich die Hand zurück.
Dr. Clarke tat so, als würde er das nicht merken. »Also, was haben Sie ausgegraben, Agnes?«
Am Abend zuvor hatte ich ihm einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt. Für gewöhnlich vermied ich es, ihn irgendwie zu beanspruchen. Er hatte viel zu viele Verpflichtungen. Zusätzlich zu seinen Aufgaben in der Verwaltung veröffentlichte er wissenschaftliche Artikel und betrieb eine Privatpraxis. Außerdem betreute er als Mentor viele Studenten und jüngere Kollegen.
Ich deutete auf das Glas mit dem großen Herzen, das ich den ganzen Vormittag studiert hatte. Es war ein ausgewachsenes Organ, aber so seltsam deformiert, dass man sich fragte, wie sein Besitzer die Kindheit überlebt hatte.
Clarke nahm das Glas und betrachtete das Herz. Wegen der schlechten Beleuchtung musste er die Augen zusammenkneifen. »Geschwürige Endokarditis?«
»Das Etikett ist falsch.«
»In der Tat«, stimmte Clarke zu. »Es liegt eine Anomalie vor, so viel ist klar, aber keine, die ich je gesehen habe. Schauen Sie nur, wie stark die Aurikel erweitert sind.«
Ich war dabei, den Mut zu verlieren. Meine Arbeit hier war wie der Versuch, ein riesiges Puzzle zusammenzufügen, bei dem verschiedene Teile fehlten, während andere gar nicht passten. »Heißt das, es sagt Ihnen nichts?«
Langsam drehte er das Glas. »Das Herz hat nur drei Kammern – ein Ventrikel fehlt«, murmelte er und schüttelte verwundert den Kopf. »Wie bei einem Reptil!«
Ich nickte. Als mir das Herz zum ersten Mal aufgefallen war, hatte ich gedacht, dass es unmöglich von einem Menschen stammen konnte. Das Museum besaß ja auch einige präparierte Tierorgane. Gehörte es vielleicht in diese Kategorie? Ich erwähnte diese Möglichkeit.
»Zu groß«, sagte er und rieb sich das Kinn. »Alles, außer der fehlenden Kammer, weist eindeutig auf einen Menschen hin.«
»Nicht ganz«, wandte ich ein und zeigte auf die Stelle direkt unterhalb der Lungenarterie rechts oben. »Dort ist ein Hohlraum, sehen Sie? Ich vermute, das ist der Ersatz für die fehlende Kammer.«
In Gedanken versunken drehte Clarke das Glas noch einmal, die Lippen gespitzt. »Wissen Sie, wer Ihnen da weiterhelfen könnte?«
Mir stockte der Atem. Ich wagte es nicht, ihn anzuschauen. Das Herz war alt, vermutlich stammte es sogar aus der Ära vor meinem Vater, der allerdings zu jener Zeit, als es erworben wurde, bereits an der Fakultät der Experte für pathologische Veränderungen gewesen war. Vielleicht hatte er es obduziert. Ich blickte zu Boden, weil ich beim besten Willen nicht wusste, wie ich mich verhalten würde, wenn er den Namen, dessen Erwähnung ich einerseits fürchtete, andererseits aber herbeisehnte, aussprechen sollte.
»William Howlett«, sagte der Dekan und legte die Fingerspitzen aneinander.
Überrascht hob ich den Kopf und sah ihn an.
»Er kennt die Sammlung hier besser als sonst irgendjemand«, erklärte Clarke. »Als er hier gelehrt hat, benutzte er die Präparate in seinen Vorlesungen – zu Demonstrationszwecken für seine Studenten.«
Ich nickte und versuchte zu lächeln. William Howlett . Dieser Name war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen.
»Jawohl«, sagte Dr. Clarke. »Howlett ist genau der Mann, den Sie
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