Das Geheimnis der Herzen
ich überprüft und gründlich abgestaubt, und dann hatte ich alles nach Organen oder Funktionssystem geordnet. Aber meine erste Tat war gewesen, alles sauber zu putzen und die Regale zu streichen. Und es blieb immer noch genug zu tun. Bei vielen Gläsern war die Versiegelung beschädigt, wodurch der Verwesungsprozess eingesetzt hatte. Bei anderen waren die Glasröhrchen, die die Präparate stützten, verrutscht oder zerbrochen.
In meinen schlimmsten Augenblicken dachte ich allerdings, dass es doch ein Fehler gewesen war, die Stelle anzunehmen. Als Dr. Clarke den Vorschlag machte, war es mir vorgekommen, als ob alle meine Wünsche in Erfüllung gehen würden. Aber ich hätte Fragen stellen sollen. Das war mir jetzt klar. Eine erfahrenere Person hätte ein angemessenes Gehalt ausgehandelt, statt sich Dekan Clarke gleich vor die Füße zu werfen. Mittlerweile hatte ich begriffen, wieso sich sonst niemand auf die Stelle gestürzt hatte.
Vor mir auf dem Tisch stand eine Ansammlung von Herzen. Drei Dutzend, in verschiedenen Größen und Formen. Die ersten waren vor siebzig Jahren in die Sammlung gelangt, und danach waren weitere hinzugekommen, bis vergangene Woche. Die Behälter bestanden aus dickem Glas, das funkelte wie Kristall. In einigen hatte sich das Formalin gelblich verfärbt, in anderen hatte es einen leichten Blaustich. Manche der Organe waren vollständig, andere segmentiert. Gleichgültig, in welchem Zustand sie waren – sie wirkten alle unglaublich schön, aber eben auch mit Mängeln behaftet. Die Defekte waren nicht zu übersehen – kleine Risse in der Herzscheidewand, vernarbtes Gewebe an den Herzklappen, welches das Öffnen und Schließen erschwerte, eine Verengung der Aorta, Vertauschung von Aorta und Lungenarterie. Zu Lebzeiten der Kranken waren die Anzeichen dieser Störungen sicher nicht so gravierend gewesen: Atemnot, wiederkehrende Schmerzen, Blässe, bläulich-violette Hautfarbe. Für den Spezialisten wären allerdings noch Geräusche dazugekommen. Ein Stethoskop auf dem Brustkorb des je weiligen Patienten hätte eine schaurige Symphonie preis gegeben.
Die neueren Präparate waren nicht beschriftet. An diesem gottverlassenen Ort war vor meiner Ankunft überhaupt herzlich wenig beschriftet worden. In einer Ecke hatte ich für die gebrochenen Herzen zwei Regale freigeräumt. Eine Herz- Ecke, wie mein Vater sie in seinem Horrorkabinett besessen hatte. Aber im Moment standen die präparierten Herzen noch völlig ungeordnet auf dem Arbeitstisch, umgeben von kleinen Pfützen aus chemischer Flüssigkeit und von meinen fleckigen Notizblättern.
Ich nahm das Glas in die Hand, das am nächsten stand. Darin befand sich das größte Herz der Sammlung, grau wie eine Taubenbrust, mit fedrig ausgefranstem Gewebe, wodurch die Konturen verschwommen waren. Es war beschriftet mit »Geschwürige Endokarditis«, in der Handschrift meines Vaters.
Es klopfte, und Dr. Clarke steckte den Kopf zur Tür herein. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war elf, und ich hatte gesagt, dass ich ihn um diese Zeit erwarten würde. Aber dann hatte ich es vergessen. Mein Laborkittel müsste gewaschen werden, dachte ich plötzlich. Und ich roch, als wäre ich selbst in Konservierungsmittel eingelegt worden. Mit hochrotem Kopf versuchte ich mich aus dem Kittel zu befreien, während Dr. Clarke auf mich zukam.
»Wie läuft’s mit dem System?«, fragte er und gab mir die Hand.
Das »System« hatte ich mir ausgedacht, als mir klar wurde, wie umfangreich die mir anvertraute pathologische Sammlung tatsächlich war. Die ältesten Stücke stammten von 1823, also aus dem Jahr, in dem die medizinische Fakultät gegründet worden war. In den darauffolgenden Jahren waren Hunderte von Präparaten gesammelt worden. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit kamen nun eimerweise Präparate aus dem General Hospital und dem Royal Victoria Hospital dazu, was das Chaos noch verschlimmerte. Es war zwar genügend Platz vorhanden, aber das Ziel war ja, die Sammlung so zu organisieren, dass die einzelnen Stücke schnell und problemlos hervorgeholt werden konnten.
In Zürich hatte ein Arzt die Dewey’sche Dezimalklassifikation für anatomische Präparate abgeändert. Ursprünglich war dieses System 1876 für das Ordnen von Büchern in Bibliotheken entwickelt worden. Bei meiner Version, von der Dr. Mastro und auch andere Mitglieder der Fakultät sehr beeindruckt schienen, wurde eine entsprechende Pathologie-Nummer hinter das Dezimalkomma gesetzt. Ich hatte
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