Das Geheimnis der Herzen
unbeschriebene Karte.
Das waren meine Rätselfälle, das heißt, Exponate, die ich immer noch nicht richtig identifiziert hatte. Die Mehrzahl von Howletts Präparaten hatte ich bereits katalogisiert, aber bei diesen sechsundachtzig kam ich einfach nicht weiter. Howlett nahm das dicke Buch, das auf dem Tisch lag und dessen Bindung so alt war, dass braune Rückstände an seiner Hand kleben blieben. Es war einer seiner Autopsie-Bände. Ich war davon ausgegangen, dass er ihn vielleicht anschauen wollte.
Seufzend blätterte er darin. »Das ist, als ob man einen alten Freund wiedersieht.« Er nahm meine Hand. »Die Arbeit, die diese Frau geleistet hat …«, sagte er und zeigte auf die Regale. »Da verschlägt es mir einfach den Atem.«
Ich bewegte mich nicht. Seine Berührung war ein Schock und lähmte mich, während sein Lob mich wärmte.
Howlett holte einen Füllfederhalter aus seiner Brusttasche und schraubte ihn auf. »Ich nehme an, diese hier warten da rauf, dass ich sie beschrifte?«, sagte er und deutete mit der Feder auf die leeren Karten.
»Wenn es nicht zu viel verlangt ist«, sagte ich enthusiastisch. Dugald strahlte, während Mastro einen Schritt näher trat, um sehen zu können, was der große Mann schrieb. Wir umkreisten ihn wie Monde. Wir konnten uns alle seiner Anziehungskraft nicht entziehen, außer Jakob Hertzlich.
Obwohl es schon zwanzig Jahre her war, dass Howlett diese Präparate das letzte Mal gesehen hatte, machte er sich sofort an die Arbeit. Ich wäre schon froh gewesen, wenn er vielleicht die Hälfte von ihnen bestimmt hätte, aber am Ende gelang es ihm bei dreiundsiebzig Stück. Er war eine wandelnde Informationsquelle. Jedes Glas hob er hoch und drehte es schweigend hin und her. Nach einer kurzen Pause kam eine Anekdote. Die Geschichten waren medizinisch faszinierend, aber auch deswegen interessant, weil sie ein Licht auf Howletts Denkweise und seine Persönlichkeit warfen. Seine Beobachtungsgabe, sein Erinnerungsvermögen und seine Konzentrationsfähigkeit waren phänomenal. Und gleichzeitig legte er eine charmante Bescheidenheit an den Tag.
»An diesen Herrn hier erinnere ich mich gut«, sagte er und schrieb etwas auf die Karte, die an einem Aorta-Aneurysma lehnte. »Es gab keinen Hinweis auf einen Blutpfropf, aber merkwürdigerweise lag eine Aortenruptur in der rechten Pleura vor. Es dauerte eine ganze Weile, dies zu diagnostizieren. Der Mann klagte ständig über Erschöpfung. Eines Tages kam er zu uns ins Krankenhaus mit Pulsationen im rechten und linken Interkostalraum, also steckte ich ihn ins Bett und verabreichte Kaliumjodid. Dosis: hundertzwanzig Gran pro Tag. Die Pulsationen verschwanden, und ich wollte ihn schon triumphierend entlassen, doch dann ist er gestorben.«
Jakob, der beauftragt worden war, Protokoll zu führen, blickte von seinem Notizblock hoch. Ich sah ihm an, dass er fasziniert war. Das was typisch Howlett – er gestand seine eigenen Grenzen ein und auch die Grenzen des Berufs, während er gleichzeitig zu verstehen gab, dass niemand mehr für die Rettung des Patienten hätte tun können als er selbst. Wir lachten alle. Jakob hielt Howletts Kommentare und Geschichten fest.
Howlett schaute ihn prüfend an. »Verstehen Sie, was ich meine, wenn ich von Pulsationen und Interkostalräumen spreche?«, fragte er. »Sie sehen ja sicherlich das Aneurysma der Aorta?« Dann wandte er sich an mich, in meiner Funktion als Museumsleiterin. »Wie viel Vorwissen kann ich bei dem Schreiber voraussetzen?«
Jakobs Ohren wurden wieder ganz rot, aber diesmal nicht vor Kälte. Ich antwortete hastig, ehe er eine unhöfliche Bemerkung machen konnte. »Er hat Medizin studiert. Hier an der McGill«, sagte ich ein wenig defensiv. »Er kennt sich aus und weiß genau, was was ist.«
Inzwischen waren auch Jakobs Wangen rot gefleckt. Man hätte denken können, er habe einen Sonnenbrand. Stur hielt er den Blick auf seinen Notizblock gerichtet, und es brodelte sichtlich in ihm. Howlett beachtete ihn nicht weiter, sondern widmete sich nun einem kleinen, nicht etikettierten Präparat, das mich schon lange verwirrte. Es sah aus wie ein gesundes Stück Brustaorta, aber in der Wand war eine Schwachstelle mit einer mandarinengroßen Ausstülpung, die sich an die Speiseröhre anlehnte. »Das hier«, erklärte Howlett, »ist ein außergewöhnlicher Fall eines mykotischen Aortenaneurysmas, mit Ruptur in den Ösophagus. Die Frau ist ohne jede Vorwarnung gestorben.« Howlett wollte wissen, ob mir schon
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