Das Geheimnis der Herzen
Knaben, die gerade gegangen waren. Wie konnten sie es wagen, Jakob so verächtlich zu behandeln! Es war nicht nur so, dass er mehr von Anatomie und Pathologie verstand als sonst irgendjemand in der ganzen Fakultät oder dass er intelligenter war als alle anderen zusammen. Noch wichtiger schien mir, dass er immer er selbst war. Bei ihm konnte ich stets auf eine ehrliche Antwort zählen.
Er kniete jetzt auf dem Boden und suchte etwas im Eiskasten beim Fenster. Meistens brachte ich ihm morgens Brötchen und Milch mit. Ich empfand so etwas wie mütterliche Gefühle für ihn, nicht nur für seine Ohren, sondern auch für seinen hungrigen Magen.
»Magere Ausbeute«, verkündete er.
»Ich habe leider keine Milch gekauft. Aber die Zeit reicht sowieso nicht, um Tee zu trinken.« Mein Mitgefühl ließ bereits etwas nach.
Er knallte die Tür des Eiskastens zu. »Wann kommt er?«
Dann hatte er es also doch nicht vergessen! Dass er keine Krawatte umgebunden und nichts gefrühstückt hatte, lag nicht daran, dass es ihm entfallen war. Jakob Hertzlich ge hörte nicht zu den vergesslichen Menschen. Er gab hingegen immer deutlich zu verstehen, wenn er etwas für Zeitverschwendung hielt.
»Gleich«, antwortete ich kurz angebunden. »Ich habe verschlafen, deshalb müssen wir uns sputen, um alles vorzubereiten, aber zuerst muss ich in den Waschraum.«
»Wann sind Sie gestern Abend nach Hause gegangen?« Seine Stimme klang misstrauisch.
Ich wollte es ihm nicht sagen, weil ich wusste, dass er mir Vorwürfe machen würde. Seiner Ansicht nach war es gefährlich, wenn ich spätabends noch allein hier arbeitete. Er war nur gegangen, weil ich versprochen hatte, gleich nach ihm aufzuhören. Um nicht antworten zu müssen, lief ich schnell hinaus in den Flur, wo sich um diese Zeit zahlreiche Studenten drängten. Die medizinische Fakultät der McGill war so schnell gewachsen, dass sie sich nach oben ausgedehnt hatte, dorthin, wo bisher mein diskreter Flügel gewesen war. Ein Lagerraum neben dem Museum war erst vor Kurzem in ein Labor umgebaut worden.
Es war rührend von Jakob, dass er sich Sorgen um mich machte. Überhaupt war er sehr in Ordnung, ein Mensch, der ohne zu klagen und ohne an Essen oder Schlafen zu denken, stundenlang an meiner Seite arbeitete. Er vertiefte sich genauso in die Arbeit wie ich. An den Wänden des Museums hingen inzwischen fünf seiner Zeichnungen, alle von Howletts Geld bezahlt. Auf diese Weise erreichte ich, dass Jakob genug Unterstützung bekam.
Ich hatte eine Zeichnung des Howlett-Herzens in Auftrag gegeben, und Jakob hatte es wunderbar getroffen. Ich ließ die Zeichnung rahmen, und sie hing jetzt in meinem Schlafzimmer. Eigentlich hatte ich vorgehabt, sie für den heutigen Tag mitzubringen, damit alle sie sehen konnten, aber in der morgendlichen Hetze hatte ich es vergessen.
Ich musste meine Taschenuhr festhalten, weil sie bei meinen ausholenden Schritten heftig hin und her pendelte. Mir blieben noch ungefähr zwanzig Minuten, bis Howlett eintraf. Meine Knie bluteten nicht mehr, aber ich wollte sie trotzdem waschen, und meine Haare, die ich zu Hause in aller Eile hochgesteckt hatte, lösten sich auf. Ich war durcheinander, aus dem Gleichgewicht. Dass ich auf dem Eis ausgerutscht war, konnte man nicht als Zufall betrachten, sondern eher als Ausdruck meines inneren Zustands. Freud hatte in Wien Bücher zu diesem Thema veröffentlicht, aber ich brauchte sie nicht zu lesen – ich hätte selbst etwas über die dunklen Mächte und Zwänge schreiben können. Ich war schon fast an der Toilettentür, als ich ihn sah.
Die Zeit stand still. Irgendwo weit entfernt läutete die Neun-Uhr-Glocke. Die Studenten versanken im Hintergrund. Die Szene kam mir vor wie in einem der Filme, die ich mir manchmal in der Salle Poirier anschaute, die stumme Bilder zeigen. Ein ozeanisches Rauschen wogte in meinen Ohren.
»Dr. White!«
Seine Stimme klang genauso wie in meiner Erinnerung. Aber er war so klein! Das hatte ich ganz vergessen. Als wir voreinander standen, waren wir praktisch auf Augenhöhe.
Sechs Jahre war es her, aber William Howlett hatte sich nicht verändert, obwohl er doch nach England gezogen und in den Ritterstand erhoben worden war. Er war jetzt sechsundfünfzig, ein Alter, in dem die meisten Männer behäbig wurden, aber er war schlank und beweglich, mit Augen, die jede Einzelheit in seiner Umgebung gierig aufzunehmen schienen.
Er nahm meine Hand und hob sie hoch. Wollte er sie küssen? In Panik schaute ich
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