Das Geheimnis der Herzen
direkt nach Howletts genannt wurde, war mit einem Preis ausgezeichnet worden. Er fasste mich an den Armen und blickte mir ins Gesicht. »Sie sind eine Preisträgerin, meine Liebe. Ich wollte, ich hätte Lorbeerblätter dabei, damit ich Ihnen einen Kranz flechten könnte.«
Eine ganze Weile lang hielt er mich so fest.
Der Preis kam von der Londoner pathologischen Gesellschaft. »Sie müssen unbedingt im November zur Verleihung nach London kommen«, fuhr Howlett fort. »Wir werden die Urkunde und das Geld gemeinsam entgegennehmen.« Ich könne bei ihm und Lady Howlett in Oxford wohnen, sagte er, vielleicht das Pathologiemuseum in London besuchen und auch nach Edinburgh fahren, um die dortigen Kurato ren kennenzulernen. Die entsprechenden Kontakte herzu stellen sei für ihn kein Problem.
Ich nickte stumm. Klar, ich war mit allem einverstanden! Die Nachricht fegte die Probleme und die Konfusion des Vormittags weg. Howletts Mitteilung und die Einladung nach Oxford überwältigten mich so, dass ich nicht mehr angemessen reagieren konnte, schon gar nicht auf meine Kollegen von der McGill, die mir lächelnd gratulierten. Dekan Clarke schien sich wirklich zu freuen, während Rivers und Mastro Mühe hatten, ihren Neid zu überspielen. Mastros Miene gefror, und Rivers hüstelte in seine Hand. Ich hatte weder die Zeit noch die Kraft, mich nach Jakob umzusehen, und deswegen bemerkte ich nicht, dass er verschwand. Erst als wir alle zur Tür gingen und uns voneinander verabschiedeten, fiel mir auf, dass er nicht mehr da war. Aber da hatte ich erst recht keine Ruhe, um über ihn nachzudenken. Howlett steckte seinen Arm in den Mantelärmel. Clarke hielt den Gehstock für ihn bereit.
Ich konnte ihn nicht einfach gehen lassen. Sechs Jahre des Wartens waren zu lang, um durch solch einen kurzen Besuch kompensiert zu werden. Ich wollte Howlett noch so viel fragen, so viel von ihm wissen. Die Aussicht auf eine Londonreise im Herbst war vielversprechend, aber bis dahin würden noch Monate vergehen. Ich redete planlos auf ihn ein. An einem Punkt ertappte ich mich sogar dabei, dass ich ihn am Ärmel packte.
Er nahm seinen Gehstock von Dr. Clarke entgegen und rückte seinen Hut zurecht. »Das Treffen hat wirklich enorm viel Freude gemacht«, versicherte er uns, während wir ihn mit eifrigen Gesichtern anschauten. »Und Sie, Dr. White«, fuhr er fort und nahm meine Hand, diesmal nicht, um sie zu überprüfen, sondern um sie zu küssen, »Sie haben hier wirklich Großartiges geleistet.«
Sein Blick ruhte auf mir. Seine Lippen ebenfalls, und in dem Moment hätte ich fast alles getan, um diesen Zustand zu verlängern. Da kam mir eine Idee.
»Bitte, kommen Sie morgen wieder«, sagte ich und staunte selbst über meine Dreistigkeit. »Ich bestehe darauf. Sie haben noch nichts von meinen Teestunden gehört, Dr. Howlett. Die darf man sich nicht entgehen lassen.«
Dugald lachte. »Ja, dafür ist sie berühmt. Diese Einladung dürfen Sie nicht ausschlagen. Tee im Museum. Sie werden sich fast wie in England fühlen.«
»Wir werden miteinander feiern«, sagte ich, und die Vorfreude stieg in mir hoch wie Fieber. »Alle sind willkommen. Passt Ihnen sechzehn Uhr?« Dugald nickte sofort. Dekan Clarke und Dr. Mastro waren ebenfalls einverstanden.
Sir William Howlett streckte mir seine behandschuhte Hand hin. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Ich bestehe darauf, Sir William.« Meine Stimme klang schrill.
Er musterte mich kurz. »Mein Terminkalender ist voll, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Also – um vier Uhr?«
Er verneigte sich leicht, tippte mit dem Stock an den Hut und ging.
18
April 1905
A m nächsten Morgen stand ich auf, als es gerade hell wurde. Den größten Teil der Nacht hatte ich damit verbracht, in meine Decke gehüllt eine Liste für meine Einkäufe aufzustellen. Wie sollte ich alles organisieren? Der Wecker tickte beharrlich und signalisierte das unaufhaltsame Entschwinden der Zeit.
Im Augenblick sah ich aus wie eine ganz normale Hausfrau, während ich mit mehreren Taschen am Arm die noch morgendlich feuchte Straße entlangging. Vielleicht ein bisschen sorgfältiger gekleidet als die meisten Frauen, denen ich begegnete. Mit meinen Haaren hatte ich mir große Mühe gegeben und sie so präzise festgesteckt, dass sogar Laure stolz auf mich gewesen wäre. Bei dem schönen Wetter musste ich die Haare auch nicht unter einem Hut verbergen. Außerdem hatte ich frische Strümpfe angezogen – nicht aus Seide, wie die
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