Das Geheimnis der Herzen
suchte ja auch eine Antwort auf Jakobs Frage. Nur war ich nicht so hartnäckig wie er. »Fehler kommen immer wieder vor. Wir alle machen welche, Dr. Howlett, wie Sie schon sagten. Aber Ihre Aufzeichnungen sind sehr gewissenhaft. Das hier ist der erste und einzige Irrtum, auf den ich gestoßen bin, glaube ich.«
Ich meinte das als Kompliment, um die Gemüter zu beruhigen, aber William Howlett legte meine Bemerkung anders aus. » Mea culpa , Dr. White«, erwiderte er, ohne mich anzusehen. »Aber ich finde, wir sollten jetzt weitermachen – wenn Sie nichts dagegen haben.«
Der Vormittag war nicht vollständig ruiniert. Aber der Umgangston hatte sich geändert. William Howlett erholte sich als Erster. Er trat einen Schritt vom Tisch zurück, lockerte seine Krawatte und begann von seiner Zeit an der McGill zu erzählen. Immer wieder stupste er Dekan Clarke an, wenn ihm irgendein Name oder ein Detail nicht gleich einfiel. Er war in der Provinz Ontario aufgewachsen, und als er nach Quebec kam, fand er es anfangs schockierend, wie gesetzlos es hier zuging. »Selbstverständlich gab es Gesetze«, sagte er. »Aber niemand schien sich daran zu halten.« Es gab zum Beispiel ein Gesetz, das vorschrieb, dass Leichen, die von niemandem abgeholt wurden, den medizinischen Fakultäten der Universitäten von Quebec zur Verfügung gestellt werden sollten. Die katholische Kirche war jedoch mit dieser Praxis nicht einverstanden, weshalb es nie genug Tote für Autopsien gab. Manche Studenten entwickelten ein gewisses Geschick im Beschaffen von Leichen und finanzierten mit dem Geld, das sie dafür kassierten, ihr Medizinstudium. Howlett erzählte, wie er einmal mit dem Schlitten die Côte des Neiges Road vom katholischen Friedhof hinuntergefahren war, im tiefsten Winter, mit einem frisch ausgegrabenen Toten. In einem anderen Fall erklärte er sich bereit, zum Bahnhof Windsor zu kommen und einen stinkenden Saratoga-Koffer abzuholen, der mit dem Zug über die amerikanische Grenze geschickt worden war. Er erinnerte sich auch an einen bestimmten Abend, als die medizinische Fakultät von der Polizei durchsucht wurde, weil ein Nonnenkloster das Verschwinden mehrerer Leichen gemeldet hatte. Die toten Nonnen wurden nie gefunden. Howlett und ein paar andere Studenten hatten sie in einer Schneewehe hinter dem Theatre Royal verscharrt, nicht weit von dem Medizingebäude, das sich damals an der Ecke Saint Urbain Street (oder Rue Saint-Urbain) und Viger Street befand.
Howlett war ein begnadeter Geschichtenerzähler und wusste genau, an welcher Stelle er noch ein anschauliches Detail hinzufügen musste, und schon bald lachte ich wieder fröhlich. Aber seine Anekdoten stimmten mich trotzdem nachdenklich. Dieser Mann, den ich so bewunderte, hatte Leichen aus einem Nonnenkloster gestohlen! Klar, er war noch jung gewesen, und vermutlich hatten seine Kommilitonen ihn dazu angestachelt, aber mein Bild von ihm veränderte sich an jenem Tag. Jedenfalls ein bisschen. Und die Ungenauigkeit bei der Dokumentation über das Howlett-Herz konnte nicht als jugendlicher Übermut abgetan werden. Irgendetwas passte hier nicht ins Bild.
Der Zauber des Morgens war verflogen, und das hatte ich allein mir zuzuschreiben – und natürlich Jakob Hertzlich, meinem Zauberlehrling, der drüben in seiner Ecke saß, seine Schreibhand ausschüttelte und dabei eine Grimasse zog. »Fast fünfzig Seiten«, ächzte er, an niemanden direkt gewandt. »Ich glaube, ich brauche einen Arzt.«
Alle lachten unbehaglich. »Wir müssen uns um diesen jungen Mann kümmern«, verkündete ich mitleidig. »Sehen Sie doch nur, was seine Hand leistet.«
Howlett war spürbar der Meinung, seine Arbeit für den Vormittag sei abgeschlossen, aber ich wollte nicht, dass er auf die Uhr schaute, deshalb wies ich ihn auf die Zeichnungen hin, die die Museumswände schmückten.
»Die stammen von Ihnen, Hertzlich?«, fragte Dr. Howlett.
Jakob hielt den Kopf wieder gesenkt.
»Ich suche jemanden wie Sie«, sagte Howlett und wandte sich dann zu uns um. »Ich habe eine Nachricht aus England bekommen. Unser Herz-Buch wird neu aufgelegt, Dr. White. Vielleicht können wir Mr Hertzlichs Zeichnungen als Illustrationen verwenden? Das wäre für ihn eine ausgezeichnete Möglichkeit, ins Licht der Öffentlichkeit zu treten. Wir haben soeben drüben in London einen Preis gewonnen, der, wie man mir sagt, sehr renommiert ist. Das wollte ich Ihnen heute mitteilen.«
Mir stockte der Atem. Das Herz-Buch, in dem mein Name
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