Das Geheimnis der Herzen
meine Tür, um in aller Frühe ein wenig zu plaudern und eine Tasse Tee zu trinken. Ich konnte mir keine Unterbrechung leisten. Am vergangenen Abend war ich viel zu lange aufgeblieben, um noch zu arbeiten, und als heute Morgen der Wecker klingelte, hatte ich ihn überhört und war deswegen die ganze Strecke hierher gerannt.
Drei Studenten warteten vor meiner Tür. Einer von ihnen lehnte an der Wand, das Knie nach vorn gestreckt. Ein zweiter stand vor ihm und stellte sich immer wieder auf die Ze henspitzen, wippte auf und ab, auf und ab, den Kopf konzent riert gesenkt. Der dritte sah mich zuerst und machte die anderen auf mich aufmerksam.
»Bedaure, meine Herren«, sagte ich, während ich meine Schlüssel herauskramte. »Ich bin spät dran, wie Sie sehen.«
»Wir wollten Sie fragen, ob Sie vielleicht eine Minute Zeit für uns hätten«, sagte der Student, der mich zuerst bemerkt hatte.
»Nein, leider keine einzige Minute.« Ich öffnete die Tür und atmete den vertrauten, dumpfen Museumsgeruch ein.
»Es dauert bestimmt nicht lange.«
Ich gab nach. Wie immer. Jakob fand, ich müsse das Wort »nein« in mein Vokabular aufnehmen. Ich befrachte mein sowieso schon viel zu komplexes Leben mit solchen Gefälligkeiten über Gebühr. »Das ist Ihre weibliche Seite«, sagte Jakob. Ich wusste immer noch nicht, ob das eine Beleidigung war oder ein Kompliment.
Die drei jungen Männer hängten ihre Mäntel an die Haken, die ich innen an der Tür angebracht hatte, und blieben verlegen neben dem Tisch stehen. Normalerweise hätten sie sich längst hingesetzt und ihre Bücher aufgeschlagen, um bestimmte Themen mit mir zu besprechen. Heute ging das nicht. Der Tisch stand so voll, dass kein Platz war.
»Frühjahrsputz?«, fragte einer von ihnen.
Ich musste lachen. »In gewisser Weise, ja.« Wenn sie doch nur verschwinden würden! Mein linkes Knie pochte. Ich hätte die Wunde möglichst schnell auswaschen sollen. Stattdessen stand ich hier herum und musste mich um drei junge Männer kümmern. Heimlich schaute ich auf die Taschenuhr, die ich von meinem Großvater geerbt hatte und immer um den Hals trug.
Gleich darauf klopfte es, und Jakob Hertzlich erschien. Meine Rettung. Er kannte seine Anatomie in- und auswendig. Er konnte meine Rolle übernehmen.
Jakobs Ohren waren knallrot. Er setzte nie eine Mütze oder einen Hut auf. Wahrscheinlich besaß er so etwas gar nicht. Er begrüßte die jungen Männer, aber sie schwiegen stur, mit gesenkten Blicken. Bei Jakob benahmen sich viele Studenten so. Er ignorierte das und widmete sich seinen Aufgaben, als wäre solch ein Verhalten unabänderlich, wie schlechtes Wetter. Ich war nicht so fatalistisch wie er, sondern musterte die drei vorwurfsvoll und verfluchte sie innerlich.
Aber gleich wanderte mein Ärger weiter, zu Jakob. Er hatte dieselben Sachen an wie am Tag vorher. Den Mantel konnte ich ihm ja noch verzeihen. Jakob hatte kein Geld, und außerdem würde Howlett diesen Mantel gar nicht zu Gesicht bekommen. Aber er hätte wenigstens ein frisches Hemd anziehen können! Seine Hosen waren mehrere Nummern zu groß und wurden von einem alten Gürtel zusammengehalten. Jakob war so dünn, dass er zusätzliche Löcher ins Leder gebohrt hatte. Keine Krawatte. Dabei hatte ich ihn ausdrücklich gebeten, eine Krawatte anzuziehen.
»Mr Hertzlich!«, rief ich. »Tun Sie uns die Ehre und übernehmen Sie das Tutorium.«
Die drei Studenten hoben gleichzeitig den Kopf, wie Hunde, die Witterung aufnehmen.
»Wir müssen los«, sagte der Erste.
»Es klingelt gleich«, sagte der Nächste.
Ich fixierte sie wieder mit meinem Blick, während Jakob lediglich die Achseln zuckte, als sie hinaustrabten. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte er sich mir zu. »Es ist wieder Winter.« Er hauchte auf seine geröteten Hände.
»Eine Mütze wäre hilfreich«, sagte ich.
»Das sagen Sie öfter.«
»Sie hören mir ja nie zu.«
»Ich höre sehr wohl zu«, sagte er mit funkelnden Augen. »Sie haben bereits mehrmals gesagt, dass ich nie meine Ohren bedecke.«
Getroffen. Ich lächelte ihn an, aber er erwiderte mein Lächeln nicht.
»Ja«, sagte ich. »Heute sind sie jedenfalls so rot wie Tomaten.« Er schien schlecht gelaunt zu sein. Vielleicht wegen der Studenten.
»Sie hören sich an wie meine Mutter.«
Jetzt lachte ich laut. Selbst schlecht gelaunt war Jakob Hertzlich erfrischend. Vor allem nach den belanglosen Gesprächen mit meinen schwächeren Studenten, wie zum Beispiel mit den drei
Weitere Kostenlose Bücher