Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
übers Herz, mit den Jungen zu schimpfen. Dafür waren die Insulaner viel zu glücklich über den guten Ausgang des Abenteuers.
Die Ruderer waren vor Anstrengung grau im Gesicht. Schweißgebadet und erschöpft von der Anstrengung hatte Krischan sich in den Sand fallen lassen. Als er schließlich aufstand und sich schwankend den anderen Insulanern zuwandte, lief Dertlefs Mutter auf ihn zu und warf ihm die Arme um den Hals.
»Danke für das Leben meines Sohnes!« Sie küsste ihn auf die
Wange. »Gott segne dich und die anderen mutigen Männer.« Tränen standen in ihren Augen.
Krischan war sprachlos. Dertlef, der sich ein wenig beruhigt hatte, sah den Hünen mit großen Augen an. »Ich hatte solche Angst, dass die See mich holen würde«, sagte er mit bebender Stimme.
Krischan versuchte den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. »Aber jetzt bist du in Sicherheit«, krächzte er. Dann wandte er sich langsam ab und ging mit schweren Schritten auf die Dünen zu.
Obwohl er mitgeholfen hatte, ein Menschenleben zu retten, wurde Krischan plötzlich von Trauer überwältigt. Er musste alleine sein. Es war unwichtig, wohin er ging und was die anderen denken mochten. Blind für die Sonne, die jetzt durch die Wolken brach, und taub für die Stimmen um ihn herum entfernte er sich immer weiter von den am Strand versammelten Insulanern.
Irgendwann konnte Krischan nicht mehr weitergehen und sank in die Knie. Tränen rannen aus seinen Augen, und mit ihnen floss die lang verdrängte Trauer um den Vater in den Sand. Der Sturm und der in Seenot geratene Junge kamen ihm plötzlich wie Schicksal vor. Offenbar war es nach all den Jahren an der Zeit gewesen, dass er sich der See und der Vergangenheit stellte. Endlich konnte Krischan sich selbst verzeihen, und die Schuld, die ihn all die Jahre wie betäubt durchs Leben hatte wandeln lassen, fiel von ihm ab. In der Vergangenheit hatte er sich niemals seinen Gefühlen hingegeben, doch jetzt erkannte Krischan, dass die Trauer zuzulassen der einzige Weg war, um wieder heil und ganz zu werden. Zu lange hatte er alles in sich vergraben. Er rollte sich am Boden zusammen und ergab sich der Traurigkeit um all das, was ihm vor langer Zeit die See geraubt hatte.
Krischan wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte. Sonnenstrahlen streichelten sein Gesicht, und plötzlich wurde ihm wieder bewusst, wo er war. Seine Kleidung war feucht, aber das störte ihn nicht. Die Erleichterung, die er in seinem Inneren spürte, war wichtiger. Krischan öffnete die Augen und nahm den salzigen Geruch des Meeres tief in sich auf. Er sah jetzt die Dinge mit einer Klarheit, die ihn erschreckte, aber auch ermutigte. So viele Jahre hatte alles im Dunkeln gelegen. All die Zeit hier auf der Insel war er wie seelenlos herumgeirrt.
Möwen zogen kreischend ihre Bahnen über dem Meer. Krischan lauschte ihren vertrauten Schreien und ein Gefühl tiefen Friedens durchströmte sein Herz.
Als Schritte an sein Ohr drangen, schaute er auf und sah Onno auf sich zukommen. Sonnenlicht tauchte den Jungen in einen hellen Schein. Als Onno den Freund erkannte, fing er an zu rennen.
»Mensch, Krischan, wir suchen dich schon überall! Was ist passiert? Bist du gestürzt?«
Der Hüne schüttelte den Kopf. »Es ist alles gut«, sagte er mit schwerer Stimme. Er fühlte sich befreit, aber auch leer, wie ein Gefäß, das neu gefüllt werden muss. »Weißt du, Onno, es war das Meer, das mich gefangen hielt. Als ich helfen konnte, Dertlef aus seinen Fängen zu befreien, da habe ich auch mich befreit.«
Onno sagte kein Wort, aber ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er reichte seinem Freund die Hand, um ihm hochzuhelfen.
Krischan rappelte sich auf, stieg auf eine Anhöhe und blickte noch einmal aufs Meer hinaus. So viele Jahre seines Lebens hatte es ihm gestohlen, doch jetzt durchströmte ihn beim Anblick des großen grauen Wassers zum ersten Mal ein Gefühl des Friedens und der Versöhnung.
27
D er Herbst ging weiter, wie er begonnen hatte. Ein Regenwetter jagte das nächste. Steife Winde fegten über die Insel. Waren die Möwen kurzzeitig zurückgekehrt, so ergriffen sie jetzt wieder die Flucht.
Auch die Hofrätin hatte es nicht mehr auf Wangerooge gehalten. Als sie von den Windpocken genesen war, packte sie Mann und Maus zusammen und verschwand. Das Ehepaar Bartling besaß ein Häuschen auf dem Festland, in dem sie gewöhnlich den Winter verbrachten. Mit ihnen hatten auch die letzten Gäste die Insel
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