Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
auskosten?«
Die Wärme der Sonne, die durch ihren dicken Mantel drang, tat gut. Es war Wemke, als gäbe es nur sie beide auf der Welt, und den Wind und die Möwen als Gesellschaft. Zu ihren Füßen lag ein Paar winziger gelber Muscheln, die noch zusammenhingen und wie ein Schmetterling aussahen. Jeels hob sie auf und reichte sie Wemke ohne ein Wort.
»Ein Abschiedgeschenk«, dachte sie, und ihre Finger schlossen sich um das Kleinod. »Die Muscheln sind wie wir«, kam es ihr in den Sinn. »Sie gehören zusammen, und doch passiert es ständig, dass eine der anderen verlorengeht.«
Sie spürte, wie eine unendliche Niedergeschlagenheit von ihr Besitz ergriff. Bedrückt sah sie Jeels an, und in seinen Augen lag die gleiche tiefe Traurigkeit, die ihr eigenes Herz umklammert hielt. Scheu hob er jetzt seine Hand und strich über Wemkes Wange. Dann schob er sanft die blonden Locken zurück, die der Wind ihr ins Gesicht blies.
Ohne zu überlegen beugte sich Wemke näher zu ihm. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hätten alles füreinander sein können.
»Zu spät!«, hämmerte es in ihrem Kopf.
Ihre Tränen flossen über Jeels’ Hand, die immer noch auf ihrer Wange ruhte. Zitternd rückte Wemke wieder von ihm ab. Sie musste sich zusammenreißen!
»Es tut mir leid«, murmelte sie mit erstickter Stimme und schlug wie haltsuchend die Arme um sich.
»Und mir tut es auch leid«, sagte Jeels leise.
In dem Moment, da ihre Blicke sich trafen und einander festhielten, wussten sie es beide. Da war die Gewissheit, zueinander zu gehören und doch bald getrennt zu sein.
Es gab im Leben magische Momente, und Wemke spürte ganz deutlich, dass dieser Augenblick dazugehörte. Ein Zauber schien sich über sie zu legen, und einen Herzschlag lang verloren sie sich, fern vom Hier und Jetzt, ineinander. Das Meer im Hintergrund, glitzernde Wellen im Schein der Abendsonne. Diese Weite und die wilde Schönheit der Insel. Es war bittersüß und qualvoll.
Jeels musste sich zwingen, den Zauberbann zu durchbrechen. Er durfte nicht zulassen, dass Wirklichkeit wurde, was ihn schon in den Nächten nicht zur Ruhe kommen ließ. Und so nahm er all seine Kraft zusammen, stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist Zeit zu gehen. Ich wünsche dir Glück, Wemke!«
Sie zog sich hoch und erwiderte den Händedruck. Dann wandte sie sich mit einem Schluchzen von ihm ab und ging mit schnellen Schritten davon.
Als Jeels die Kate erreichte, stand Krischan mit schiefgelegtem Kopf vor dem Haus, als lauschte er auf etwas. »Es geht schon los!« Er legte einen Finger an die Lippen.
Lautes Scheppern und Klirren klang zu ihnen herüber. Es hörte sich an, als sei eine Horde Kühe von der Weide ausgebrochen und liefe durch das Dorf. Aber das Vieh der Insulaner stand schon längst friedlich im Stall.
»Was geht los?« Jeels’ Augen suchten nach dem Ursprung des Lärms. Vom Strand her zog eine Kette hell leuchtender Punkte seine Aufmerksamkeit auf sich.
Krischan konnte nur mit dem Kopf schütteln. »Sag mal, Jeels, kennt ihr da in Bremen eigentlich gar nichts? Kein Osterfeuer, kein Eierbicken, nicht einmal das Lichteinläuten durch den Sünnerklaas ?«
Als Jeels ihn nur verständnislos anschaute, schnaubte sein Freund verächtlich. »Armes Stadtvolk. Zum Abschluss des Nikolaustages zieht heute Abend der Sünnerklaas , wie wir den Nikolaus hier nennen, mit seinen Gehilfen von Haus zu Haus. Er ruft die Kinder raus und fragt, ob sie artig gewesen sind. Natürlich gibt es hier nur liebe Kleine. Sie trällern ihm ein Liedchen vor oder sagen ein Gedicht auf und versprechen, während des kommenden Jahres ihren Eltern nur Freude zu machen. Der Sünnerklaas reißt dann seinen Sack auf, und es gibt Zwieback und Kringel. Musst aber nicht glauben, dass der Bursche nur für die Kinder da ist. Nein! Er erbittet für jedes Haus und alle, die darin wohnen, Segen für das kommende Jahr.« Krischan legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ich sag’s dir lieber gleich, bevor du nachher wie Hein Dussel dastehst: Du solltest am Ende deinen Geldbeutel zücken. Weißt du, sie sammeln für eine gute Sache. Nur einen ganz kleinen Teil des Geldes behalten sie selbst, als Lohn für ihre Mühe sozusagen. Manchmal bekommen die Lichtträger eine Tasse Tee angeboten, öfter aber einen Schnaps. Ist schon vorgekommen, dass sie sich am Ende des Abends gegenseitig stützen mussten.« Er lachte in sich hinein.
»Und du meinst, die Männer verirren sich auch bis zu
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