Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
ihren Schultern. Es war, als ob sie etwas Unrechtes
täte, Konrad jeden Tag betrog. Dabei hielt sie sich auch weiterhin bewusst von Jeels fern.
Tagsüber gelang es ihr zumeist, die Gedanken an ihn zu verdrängen. Sie war beherrscht und verriet sich nie. Doch in den Nächten konnte sie ihre Empfindungen kaum im Zaum halten. Es gelang ihr nicht, den Gefühlen einen Riegel vorzuschieben. Und so träumte sie sich Nacht für Nacht an Jeels’ Seite. Seine dunkle weiche Stimme trug sie auf Wolkenflügeln zu ihm. Es war, als sei etwas in ihr lebendig geworden, von dem sie zuvor nie etwas geahnt hatte. Und nun war es da und ließ sich nicht mehr vertreiben. Die Macht ihrer Gefühle war stärker als alles andere, stärker auch als ihr Verstand.
Dieser Zustand nagte an Wemke, und fast wünschte sie sich in diesen Tagen die Unruhe der Sommerzeit zurück, an denen sie abends vor lauter Erschöpfung wie tot in den Schlaf gefallen war.
Die Insulaner genossen die Winterruhe, in der sie wieder unter sich und frei von den Zügeln der geheimen Hofrätin waren, in vollen Zügen. Die kurzen Tage und langen Nächte kamen ihnen entgegen. Es wurde gut gekocht in dieser Zeit, und an den Abenden traf man sich zum Geschichtenerzählen. Natürlich spielte auch der heilige St. Nikolaus darin eine Rolle. Kurz vor Weihnachten, am 23. Dezember, wurde auf der Insel zu seinen Ehren ein Fest gefeiert.
»Er reitet auf einem weißen Schimmel durch die Lüfte und jagt dabei Stürme vor sich her, die den Winter aus dem Land treiben«, berichteten die Alten ihren Enkeln.
Die Kinder warteten gespannt auf den Abend, denn dieser hielt noch ein weiteres besonderes Ereignis für die Insulaner bereit.
Als Jeels am späten Nachmittag des 23. Dezember mit Benno am Strand entlangspazierte, erinnerte nichts an den steifen
Wind, der noch vor wenigen Tagen die Wellen strudelnd in die Höhe getrieben hatte. Das Wetter hatte sich beruhigt, und die Welt war eine andere. Sanft glitten die Wellen an den Strand, und die sinkende Sonne tauchte das Watt in einen rötlichen Glanz. Weiße Wolken schwebten leicht und unbeschwert am Himmel.
Seit Tagen schon war für Jeels jeder Spaziergang ein Abschiednehmen. Er suchte die alten Plätze auf, die ihm so viel bedeuteten. Bald würde er ohne das Rauschen der Wellen erwachen. Es war ihm unvorstellbar. Das Leben als Arzt in Bremen schien ihm so fern. Und doch würde er gehen. Als der Abend anbrach und die Sonne ihre letzten Strahlen über das Wasser schickte, kam ihm eine Gestalt am Strand entgegen. Sie schien ganz in Gedanken versunken.
»Wemke«, schoss es Jeels heiß durch den Sinn.
Für einen Augenblick überlegte er umzukehren, sich einfach abzuwenden. Er fühlte sich innerlich so wund und zerrissen, dass ein Abschiednehmen von ihr ihm unmöglich schien. Doch dann war der Moment der Entscheidung vorbei.
»Guten Abend«, begrüßte sie ihn mit einem etwas verkrampften Lächeln. »Ihr beide nehmt wohl Abschied.«
Jeels nickte traurig. »Es spricht sich also schon auf der Insel herum, dass ich Wangerooge bald verlassen werde.«
»Konrad bedauert es sehr. Du kennst ja seine Pläne, im kommenden Jahr fortzugehen. Und da hätte er dich gerne als seinen Nachfolger gesehen.«
»Mit dir zusammen wäre das der Traum meines Lebens!«, schrie sein Herz ihr zu. Aber über seine Lippen kam kein Wort.
Wemke bückte sich und streichelte den Schäferhund, der ihr im Gegenzug die Hand leckte. »Ich werde euch beide vermissen. Bis wann kannst du noch bleiben?«
»Ich werde am ersten Tag des neuen Jahres fahren.«
Niemand sonst war außer ihnen am Strand. Um sie herum
wehte einsam der Wind, raschelte durch den Strandhafer und wirbelte Sandkörner auf. Es war, als wären sie ganze alleine auf der Welt. Eine Trauer stand zwischen ihnen, die fast greifbar war.
»Wirst du jemals zurückkommen?« Mit zitternden Händen strich Wemke ihren Mantel glatt.
Jeels tat einen tiefen Atemzug. »Vielleicht im nächsten Sommer. Aber ich bin mir noch nicht sicher.«
Das Herz wollte ihm zerspringen bei der Vorstellung, Wemke nie wiederzusehen. Er hob den Kopf und sah sie an. Für einen Moment glaubte er in ihren Augen eine Spiegelung seiner eigenen Empfindungen zu erkennen. Die Sehnsucht in ihren Augen verwirrte ihn. Sie wollte nicht passen zu den nüchternen Worten, die sie miteinander gewechselt hatten. Er wies auf zwei große, nahe beieinanderliegende Steine. »Wollen wir uns nicht setzen und gemeinsam die letzten Sonnenstrahlen
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