Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Mützen und schüttelte die Freunde wie Puppen hin und her. Jeels schauderte und wusste nicht, ob vor Kälte oder vor Unbehagen. Obwohl er viele Male den Weg zum Strand gegangen war, kam es ihm vor, als gleite er nun durch eine fremde Welt. Das Bild, das sich ihnen am Wasser bot, spiegelte in nichts die Jeels bislang so vertraute Welt des Insellebens wider. Wo waren die leise plätschernden Wellen, der sanfte Wind im Dünengras und die schwerelos am Himmel schwebenden Möwen nur geblieben?
Wangerooge war Jeels plötzlich völlig fremd. Auf einer hohen Düne stehend schaute er zusammen mit Krischan auf das Meer hinaus und konnte kaum mehr die Augen abwenden. Die See erhob sich schäumend und warf sich mit lautem Tosen gegen den Dünenwall. Wellen rollten züngelnd und leckend auf die Insel zu. Hinter ihnen türmten sich schon neue Wogen auf. Der starke Wind fegte weißgraue Schaumflocken wie Rauch über die Insel. Scheinbar zum Greifen nahe hingen zerfetzte Wolken über dem Wasser wie eine geschlagene Armee. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die aufgerissene Wolkendecke fanden, verliehen dem Ganzen eine Atmosphäre von Unwirklichkeit.
Am Meeressaum sah Jeels einige Männer in Langschäftern stehen. Sie versuchten ein Holzhäuschen vor den gierigen Fingern des Wassers zu retten. Brodelnde Gischt tanzte um sie herum. Über ihnen auf den Dünen waren gekrümmte Gestalten zu erkennen, die wild gestikulierten.
Krischan wies mit ausgestrecktem Finger auf zwei in die Dünen geschlagene Breschen. Er beugte sich zu Jeels vor und rief: »Stand schon bei der letzten Sturmflut auf der Kippe mit dem Haus vom Segelflicker. Muss heute Nacht von der Flut mitgerissen worden sein.«
Jeels fragte sich, ob die Rettung des Baumaterials das Risiko wert war, das die Männer eingingen.
Schreie drangen zu ihnen herüber, als ein langer tosender Wall aus Wasser heranrollte. Ein Krachen und Bersten ertönte. Die Insulaner flohen rennend vor dem Wasser und krochen die Dünenwand hinauf. Immer wieder löste sich der Sand unter ihren Füßen und brach ins Meer. Hände streckten sich den Männern entgegen, man zog sie hinauf. Mit einem ächzenden Laut riss die See das Häuschen aus dem Sand und zerrte es mit sich fort.
Jeels spürte, wie sein Herz gegen die Rippen hämmerte.
Der Anblick des Meeres, die gespenstische Szene, das alles erschreckte ihn, stieß ihn ab. Es zog ihn aber gleichzeitig auch wie magisch an. Er hatte in den letzten Monaten das Leben an der See lieben gelernt. Doch jetzt erkannte Jeels, dass es noch ganz andere Gesichter des Meeres gab. Es konnte gnadenlos sein.
Die Menschen hatten versucht, das Meer zu erobern, doch es war unzähmbar. Jeels sog bebend den Atem ein. Hier auf der Insel war man vom Wasser umzingelt, der See voll und ganz ausgeliefert. Wie konnte man diese Hilflosigkeit nur ertragen?
Krischan schien die innere Erregung seines Freundes zu spüren. Er griff nach Jeels’ Arm und nickte in Richtung der Männer, die nun mit hängenden Köpfen oben auf der Düne standen. Es ist gutgegangen, sagte sein Blick. Langsam beruhigte sich Jeels’ Herzschlag wieder.
Jemand zupfte ihn am Ärmel. Onno war zu ihnen hinaufgestiegen.
»Seht nur, was die Jungen da treiben«, rief er gegen den Wind und zeigte auf zwei kleine Gestalten, der Größe nach vielleicht acht oder neun Jahre alt, die unbemerkt von den anderen Insulanern eine Düne hinabglitten. Die Kinder gestikulierten in Richtung eines Bootes, das in Strandnähe auf dem Wasser trieb.
»Mein Gott, die wollen bei diesem Wetter ins Wasser und den Kahn holen!«, schrie Krischan.
Durch eine Anhöhe waren die Jungen vor den Blicken der anderen Insulaner verborgen.
Jeels zog sich der Magen zusammen, und eine eisige Kälte breitete sich in ihm aus.
»Onno, du bleibst bei Tedamöh«, befahl er mit fester Stimme. Dann rannte er los. Der Weg durch die Dünen zum Wasser kam ihm länger vor als jede Strecke, die er auf der Insel bisher zurückgelegt hatte. Sich mit Händen und Füßen abstoßend
glitt Jeels den Dünenwall hinunter. Krischan war ihm dicht auf den Fersen. Keuchend vor Anstrengung erreichten die Männer den Strand. Die Kinder waren längst tief in die aufgewühlte See gewatet. Einer der Jungen hatte sich schon in das Boot geschwungen, und hielt ein Ruder fest umklammert. Sein Kumpan stand bis zur Hüfte im Wasser. Wie er sich überhaupt noch auf den Füßen halten konnte, war Jeels ein Rätsel, denn das Meer zerrte abwechselnd an dem Jungen
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