Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Menschen, und sie hatten Wiltert geliebt. Er hätte trotz seiner Herkunft ein guter Mensch werden können. Und doch war es nicht so gekommen. Wiltert hatte sich anders entschieden.
Plötzlich stieg in Jeels eine Erkenntnis auf: Auch ihm stand es frei, sich zu entscheiden. Das Erbe der Van-Voss-Männer mochte unberechenbar sein und es flößte ihm auch immer noch Angst ein, aber dennoch konnte er der Mensch bleiben, der er war, zu dem Thomas Hanken ihn erzogen hatte. Es lag in seiner Hand, das Erbe anzunehmen oder auszuschlagen. Jeels sog tief die kalte Nachtluft ein und stieß sie langsam wieder aus. Trotz der schrecklichen Geschehnisse und trotz der tiefen Traurigkeit, die seit dem Abschied von Wemke sein ständiger Begleiter war, erfüllte ihn in diesem Moment tiefer Frieden.
Das Gefängnis der Insel war im Erdgeschoss des alten Turms untergebracht. Der Eingang befand sich an der Südseite: eine schwere Tür, die von außen verschlossen werden konnte. Das war auch gut so - zumindest in diesem Fall, befand der Vogt. Mit grimmiger Genugtuung schob er Wiltert, dessen Miene wie versteinert war, in den Raum. Dieser ließ sich sogleich auf einem der beiden wackeligen Stühle nieder. Außer diesen Möbelstücken gab es in dem Turmzimmer noch einen kleinen ausgesonderten
Tisch sowie ein uraltes freistehendes Bett. Sonst deutete nichts darauf hin, dass hier jemals ein Mensch seine Zeit verbracht hatte.
Solange der Vogt zurückdenken konnte, war das Erdgeschoss kaum einmal zu seinem eigentlichen Zweck genutzt worden. Vor Jahren hatte einer der Arbeiter der Salzsiederei im Rausch einen Insulaner bedroht und zwei Nächte im Turm verbracht. Doch ansonsten ging es auf Wangerooge alles in allem eher friedlich zu. Um die Räumlichkeiten nicht brachliegen zu lassen, nutzten die Insulaner das Erdgeschoss zum Unterbringen von sperrigem Strandgut.
In dieser Nacht war der Vogt froh darüber, dass es auf der Insel ein Gefängnis gab. Die Kälte in Wilterts Augen ließ ihn erschaudern. Wer konnte schon wissen, wozu der Gastwirtssohn noch alles fähig war.
29
W emke setzte sich mit einem Ruck im Bett auf. Sie hörte das Feuerhorn und wusste sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Und im gleichen Augenblick überfiel sie die Gewissheit, dass dieser Vorfall mit Jeels zu tun hatte. Seit ihrer Begegnung am Strand war sie unruhig gewesen. Ihr Verstand hatte ihre Befürchtungen als Unsinn abgetan. Die Traurigkeit über den Abschied von Jeels und dem, was zwischen ihnen hätte sein können, brachte sie durcheinander. Und doch hatte sie die bösen Vorahnungen nicht ganz abschütteln können. Jetzt brachte das Feuerhorn die Bestätigung, dass ihre Gefühle sie nicht getrogen hatten.
Wemke schwang entschlossen die Füße aus dem Bett. Ihr Herz raste. Nackte Angst schien sich wie eine Fessel um sie zu legen. Jeels! Sie musste zu ihm, sofort. Musste sich überzeugen, dass er noch lebte. Alleine die Vorstellung, ihn nie mehr wiederzusehen, brachte sie fast um den Verstand. Und dabei hatte sie ihm gestern erst Lebewohl gesagt in dem Wissen, dass es genau so kommen würde, dass sich ihre Wege hier auf immer trennten. Jetzt, da sie ihn in Gefahr wähnte, erkannte Wemke, wie absolut unerträglich der Gedanke war, ohne ihn zu sein. Niemals würde sie damit leben können! Sie gehörten zusammen. Und daran konnten weder ihr Pflichtgefühl noch Konrads liebevolle Art etwas ändern. Sie würde sich dem stellen müssen. Wenn es noch die Möglichkeit dazu gab!
Ihre Hände zitterten und es gelang ihr kaum, das Kleid
überzustreifen. Doch endlich war es geschafft. Wemke trat auf den Flur und griff nach dem Mantel. Nun noch eine Laterne, dann konnte sie gehen.
Aus dem Nebenraum klangen Geräusche zu ihr herüber. Auch Konrad schien von dem Feuerhorn geweckt worden zu sein. Wemke hörte ihn stöhnen. Den Geräuschen nach zu urteilen stemmte er sich aus dem Bett. Wemke hörte den Stuhl, an dem er sich festhielt, über den Boden scharren. Hoffentlich wurde Freya davon nicht wach.
»Wemke!« Konrads Stimme rief laut und flehend nach ihr.
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Nein! Dieses eine Mal würde sie ihm nicht helfen können. Sie musste gehen. Sofort!
Entschlossen griff Wemke nach der Laterne, doch da öffnete sich Konrads Schlafzimmertür. Wie ein verschrecktes Reh sah Wemke ihm entgegen. Dann schloss sie verzweifelt die Augen. Sie hatte zu lange gezögert.
»Wemke, hast du mich denn nicht gehört?«, keuchte Konrad.
Wemkes
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