Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Moment fürchtete sie, die
Beine würden unter ihr nachgeben. Dann erst realisierte sie, dass Wiltert die Brände zu verantworten hatte. Ein Schauer lief Wemke über den Rücken. Das passte zu ihrer Einschätzung von dem Kerl. Wie gut, dass er jetzt gefangen war.
»Was für eine Nacht!«, seufzte der Vogt und fuhr sich erschöpft mit der Hand durchs Haar. »Da lebt man jahreslang neben so einem Menschen her und weiß gar nicht, was sich hinter der Hülle verbirgt. Das ist schon erschreckend. Ihr hättet erleben sollen, wie der mit seinen Eltern umgesprungen ist. Also, ich bin froh, wenn wir diesen Burschen auf dem Festland haben. Da liegt jetzt so was in seinen Augen, das mir unheimlich ist.« Er runzelte die Stirn. »Ich werde mich ihm nur noch bewaffnet nähern und niemandem erlauben, das Gefängnis alleine zu betreten. Ist viel zu gefährlich.«
»Ich werde Wilterts Behandlung übernehmen.« Konrad schien die letzten Sätze des Vogtes gar nicht wahrgenommen zu haben, so sehr war er darauf konzentriert, sich aufrechtzuhalten. Sein Atem rasselte wie nach einem langen anstrengenden Lauf, doch seine Stimme klang entschlossen. »Ein Arzt kann sich seine Aufgabe nicht aussuchen, und in diesem Fall bin ich gerne bereit, meine Pflicht zu tun, wenn ich Jeels van Voss damit einen Gefallen tue. Das bin ich ihm einfach schuldig!«
Der Inselvogt nickte überrascht. »Das wird er Ihnen zu danken wissen. Ich kann nicht sagen, dass ihm die Aussicht, diesen Halunken zu verarzten, Freude bereitet hat.«
»Wemke, kannst du Jeels diese Nachricht überbringen?« Konrad drehte sich mit bittender Miene zu ihr um. »Schaffst du es alleine bis zur Van-Voss-Kate? Ich würde Hubert gerne hierbehalten, damit er später mir nach Hause helfen kann. Und auch Sie, lieber Vogt, mit einer Waffe vor der Tür zu wissen, wäre tröstlich. Wer weiß, wozu dieser Kerl da drinnen imstande ist.«
»Ich kann auch meine Frau aus dem Haus rufen oder einen der anderen …«, begann der Vogt.
»Nein, ich kann alleine gehen«, sagte Wemke schnell. »Das ist überhaupt kein Problem.«
Sie griff nach der Laterne und machte sich auf den Weg. In Sichtweite der Männer zwang sie sich noch zu Ruhe und Gelassenheit. Mit weit ausgreifenden Schritten schlug sie den Pfad durch die Dünen ein. Als jedoch die ersten Hügel sie vor den Augen der anderen verbargen, zerbrach Wemkes mühsam aufrechterhaltene Fassade. Ihre Lippen bebten, und Tränen rannen über ihre Wangen. Sie begann zu rennen. Schneller und immer schneller, wie um die verlorene Zeit noch aufzuholen. Sie musste ihn einfach sehen, berühren, sich vergewissern, dass ihm auch wirklich nichts geschehen war! Wemke lief gegen den Wind an, als ginge es um ihr Leben.
Ihr tränenverschleierter Blick glitt über die gespenstische Insellandschaft. Wie Wolkenberge wirkten die Dünen im fahlen Licht des Mondes. Nirgends gab es einen Farbtupfer. Alles war formlos weiß. Wemke fühlte sich wie auf einem fremden Stern, und doch war da ein Ziel, auf das sie zusteuerte. Mit sicheren Schritten durchquerte sie die frostige Weite, und langsam wich die Eiseskälte aus ihrem Inneren. Gleich würde sie Jeels in die Arme schließen können.
Jeels war unendlich müde. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Niemand hatte ihn bei der Kate erwartet. Krischan schien noch mit dem Vieh unterwegs zu sein. Tedamöh würde ihn auch nicht ohne eine gute Tasse Tee zurückschicken, so viel war sicher. Ein Tee wäre ihm jetzt auch recht gewesen, doch wohl oder übel musste er ins Dorf zurück. Seine Augen streiften bedauernd die Schlafbutze. Wie gerne würde er sich einfach nur ausruhen. Doch das musste noch warten. Mit grimmiger Entschlossenheit, die Schmerzen und die Müdigkeit
unterdrückend, suchte Jeels zusammen, was er brauchte.
Er war nicht nur erschöpft von den Erlebnissen dieser Nacht. Der Schmerz in seinem Inneren rührte von der Trauer in seinem Herzen her, die ihn seit gestern nicht mehr hatte verlassen wollen. Nun, wo das Feuer gelöscht und der Täter gefasst und überführt war, wanderten seine Gedanken wieder zu Wemke. Sein Herz war ihm so schwer. Jeels seufzte tief auf und hielt einen Moment inne.
Dass jemand seinen Namen rief, nahm er zunächst gar nicht wahr. Als das Geräusch schließlich bis an sein Ohr vordrang, schrak er zusammen. Gerade noch hatte er an Wemke gedacht, und nun war sie es, die dort draußen nach ihm rief. Wieso war sie hier? Noch dazu ausgerechnet jetzt, da er sich so verletzlich fühlte.
Dann
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