Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Seine Augen hingen an der Dünenkette, dem einzigen Schutz des Dorfes gegen die sich auftürmende See. Waren sie ihm sonst wie ein großes Bollwerk erschienen, so muteten die Hügel jetzt winzig an und das Meer gewaltig. Fast, als ob David und Goliath einander gegenüberstünden. Der Himmel über dem Schauspiel wirkte fahl.
Jeels wünschte sich, sie wären zu Hause geblieben und säßen in der Kate bei einem heißen Tee zusammen. Doch dann, als ob sie seine Bedenken zerstreuen wollte, brach für einen winzigen Moment die Sonne durch die Wolken.
Vor ihnen lag das Dorf. Die Inselhäuser trugen Mützen aus Schnee, und trotz des stürmischen Wetters waren viele Menschen auf dem Weg zur Kirche. Vielleicht könnten ihre Gebete den Herrgott umstimmen, und Weihnachten würde doch noch ein ruhiges Fest werden. Wer wusste schon zu sagen, was hinter der Stirn des Einen vorging.
Und so strömten die Insulaner aus ihren Häusern und wanderten gemeinsam mit Jeels und Krischan zum Turm, der die Kirche beherbergte. Grüße schallten hin und her. Der Himmel wurde mit angstvollen Blicken beäugt. Die Menschen hatten sich die Mützen und Hauben tief ins Gesicht gezogen. Nur die Münder, und manchmal ein dunkler Bart, lugten darunter hervor. Die Kinder waren dick vermummt und wurden bei der Hand genommen, als könnte der Sturm sie packen und mit sich hinfortnehmen.
Der Vogt gesellte sich zu Jeels und Krischan. »Dr. Hoffmann hat sich bei der Versorgung von Wiltert wohl doch sehr verausgabt«, teilte er ihnen besorgt mit. »Ich habe mit Hubert gesprochen. Der Doktor hat das Bett seitdem nicht verlassen können.«
Jeels zog sich der Magen zusammen. »Ich werde zu ihm gehen.«
Der Vogt zuckte die Achseln. »Ob Dr. Hoffmann dich allerdings zu sich lässt, weiß ich nicht. Hubert hat erzählt, dass er selbst seiner Frau den Besuch verweigert. Aber ich wäre froh, wenn du mal nach Wiltert schauen könntest.«
Ein kleiner Junge unterbrach das Gespräch, indem er den Vogt an der Jacke zupfte. »Stimmt es, dass der Wiltert im Turm einsitzt?« Als der Vogt ernst nickte, fügte er hinzu: »Hoffentlich hat er den Stephanus und sein Pferd in Ruhe gelassen. Was, wenn er ihm nun alle Geschenke für uns abgenommen und verbrannt hat?« Seine Augen blickten riesengroß unter der Mütze hervor.
Der Vogt fuhr ihm mit der Hand beruhigend über die Wange. »Du sollst dein Teil wohl kriegen, Peter. Da mach dir mal keine Sorgen.«
Er wandte sich wieder Jeels zu. »Den Verband von Wiltert hat meine Frau gestern gewechselt. Dr. Hoffmann hatte mir eine Salbe dafür gegeben. Der Kerl benimmt sich merkwürdig, das kann ich dir sagen. Als sei ich sein Gefangener und er hätte das Sagen. Ich hab kein Auge von ihm gelassen, während meine Frau ihm die Wunde auswusch, und war froh, als sich der Schlüssel wieder im Schloss drehte.«
Sie näherten sich jetzt ihrem Ziel. Von weitem sah es aus, als ob sich die kleinen Häuser rund um den alten Turm hinter den Dünen niederduckten. Der Pavillon für die Badegäste war verwaist, und nichts deutete mehr auf das rege Treiben der Sommermonate hin. Jeels hielt nach Wemke Ausschau, doch er fand sie nicht.
Krischan half gerade einem kleinen Mädchen dabei, die vierundzwanzig steinernen Stufen zum Kirchenraum zu erklimmen. Sie suchten sich einen Sitzplatz in der hintersten Reihe. Tedamöh und Onno betraten den Raum und gesellten sich zu ihnen.
Jeels’ Augen suchten die Reihen der Bänke ab und glitten dann nach oben zu den Logen. Wo war Wemke? Die Worte des Inselvogts hatten ihn beunruhigt. Was war nur los?
Um sich vom Grübeln abzulenken, betrachtete Jeels die Kirchgänger. Der Raum füllte sich allmählich. Alle, die nicht krank oder uralt waren, kamen. Jeels sah Gesichter so rund und rot wie Äpfel. Langhaarige Mädchen in Tracht und spitzbübische Jungen. Aber auch verrunzelte Alte, die dem Tod näher waren als dem Leben. Sie alle gehörten hierher, zu dieser Insel. Plötzlich fühlte er sich unendlich verbunden mit den Menschen. Wenn er nur für immer bleiben könnte. Mit Wemke an seiner Seite. Jeels spürte einen Stich in seinem Herzen, doch dann riss er sich zusammen. Die Entscheidung war gefallen, und er würde nicht alleine gehen müssen. Das war Geschenk genug. Er wollte nicht gierig sein.
Die Orgel setzte ein, und der Gottesdienst begann. Der Pastor hielt an diesem Morgen natürlich eine Predigt über die Geburt des Heilands. Er sprach aber auch von den Ereignissen der vergangenen Tage, hielt den
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