Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Insulanern vor Augen, dass nicht nur Wiltert ein sündiger Mensch war. Zuletzt bat er angesichts des heftigen Wetters den Patron der Schiffer inständig um Hilfe. Er möge doch dem Sturm bald ein Ende bereiten und den Menschen das Leben und die Heimstätte erhalten.
Doch noch wies nichts darauf hin, dass der Sturm ein Einsehen haben würde. Im Gegenteil. Draußen wurde es immer dunkler, und die Augen der Menschen hingen häufiger am Fenster als an der Kanzel.
Während des Lieds, das auf die Predigt folgte, schien das
Wetter sie verhöhnen zu wollen. Die Wolken teilten sich und ließen Blitze niederzucken. Danach folgte ein ohrenbetäubendes Krachen. Die Menschen schrien auf, Alte schlossen die Hände ergeben zum Gebet, Kinder fingen an zu weinen und pressten die Gesichter gegen die Röcke der Mütter. Andere klammerten sich angstvoll aneinander. Einige abergläubische Alte sahen in dem Geschehen ein böses Omen und jammerten laut. Wenn selbst der Schutzheilige der Schiffer seine Hand von ihnen nahm, was sollte dann nur werden? Finster wurden ihre Gesichter, und sorgenvoll schüttelten sie die Köpfe.
»Stehe der Herrgott uns bei«, murmelte Janohm, ein alter Fischer. »Der Teufel will uns holen!«
Tedamöh konnte darüber nur den Kopf schütteln. »Nu mach dir mal nicht gleich in die Hose. Weihnachten oder nicht, wir haben schon ganz anderes Wetter überstanden. Das geht auch wieder vorbei. Bete lieber, dass die Dünen hoch genug sind.«
Sie erhob sich und begann mit lauter Stimme »Ein feste Burg ist unser Gott« zu singen. Nach und nach setzten die anderen ein, und die Unruhe legte sich wieder. Dankbar nickte der Pastor ihr zu.
Schaurig klang das Geläut durch das Brausen des Windes, als die Menschen den Gottesdienst verließen.
»Wie ein Trauergeläut für die ganze Insel«, flüsterte Janohm.
Voller böser Ahnungen versammelten sich die Insulaner vor dem Turm. Ihre Augen schweiften in Richtung Meer und blieben am Himmel hängen. Einige Männer rannten, sich gegen den Wind stemmend, zum Strand. Kurze Zeit später kamen sie mit ernsten Gesichtern wieder zurück.
»Der Sturm nimmt noch zu«, berichtete der Schuster. Er sprach so emotionslos, als erzähle von den Schuhen, die noch besohlt werden mussten. Doch Jeels sah, dass seine Hände zitterten. »Ein mächtiger West-Nordwest peitscht hohe Wogen gegen den Dünenwall. Und das Wasser läuft noch auf.«
»Ich denke, es wird das Beste sein, wenn wir jetzt sofort vorsorglich die Häuser in den Randdünen abbrechen«, schlug Tedamöh in resolutem Tonfall vor. »Die Familien müssen auf die höher gelegenen Häuser im Südwesten verteilt werden. Wir müssen auch die Tiere aus den Ställen treiben.« Sie blickte sich eindringlich um. In einigen Gesichtern zuckte es, doch niemand begann zu weinen. Einige Frauen seufzten laut auf und fingen wohl in Gedanken schon an, ihr Hab und Gut zusammenzupacken.
»Was ist mit dir, Piet?« Der Vogt wandte sich an einen älteren Graubart, der verzweifelt zum Himmel schaute. »Dein Haus ist doch beim letzten Mal, als der Schutzwall brach, schon fast weggerissen worden.«
»Ich bin ganz allein und werde es nicht schaffen«, antwortete der Mann. »Kann ja nicht mal mehr eine Kiepe tragen und fünf Schritte damit gehen, ohne dass mein Herz stolpert.«
»Wir helfen dir.« Der Schuster schlug ihm auf die Schulter. »Es ist doch ein Leichtes, deine kleine Hütte abzubrechen und das Material für den Wiederaufbau zu sichern. Es soll nicht an Händen dafür fehlen. Das ist hier auf Wangerooge doch ein ungeschriebenes Gesetz.« Er wandte sich den andern zu und erntete Kopfnicken.
»Von mir könnt ihr Pferde und Wagen haben. In solch einem Fall natürlich ohne Bezahlung«, mischte sich der Vogt ein.
Jeels drehte sein Gesicht der Menge zu. »Sofern noch jemand unterkommen möchte: Bei uns ist noch Platz. Bis zu meiner Kate verirrt sich das Meer bestimmt nicht.«
»Und der Piet kann zu mir kommen«, erbot sich Tedamöh.
»Was ist mit Hilfe vom Festland?«, fragte eine Stimme aus der Runde.
»Das Amt in Tettens weiß längst, in welcher Gefahr wir schweben«, antwortete der Vogt und machte eine verächtliche Handbewegung. »Schon beim letzten Sturm habe ich ja um
Hilfe gebeten. Ihr wisst es. Der Großherzog wird uns höchstens auffordern, Wangerooge zu verlassen.«
Nach der Nacht, in der das Haus des Segelflickers ins Meer gebrochen war, hatte man das Amt in Tettens über die Sachlage informiert. Die Bruchstellen in den Dünen
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