Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
sinken und wandte sich zum Fenster. »Zauberei«, stieß er dann aus. »Die Insulaner glaubten, dass deine Mutter ein Meerweib war und zaubern konnte. Die Meerweiber können das!«
»Aber Krischan!« Jeels wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. »Meerjungfrauen haben Flossen und leben im Wasser.«
»Nicht alle!« Krischan hatte sich zu ihm umgedreht. Er sah ihn ernst an und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Einige verwandeln sich nur in Vollmondnächten in Meermenschen. Viele alte Insulaner schwören, deine Mutter in solchen Nächten gesehen zu haben. Sie ging weit hinaus ins Meer und tauchte unter.« Der Blick, den er Jeels zuwarf, besagte, dass er dies allein schon als äußerst verwunderlich empfand. »Die Männer erzählten, dass sie nur noch eine Schwanzflosse aus dem Wasser ragen sahen und dass deine Mutter weiter und immer weiter hinausgeschwommen sei. Du musst zugeben, freiwillig in tiefes Wasser zu gehen ist alles andere als gewöhnlich. Außer den verrückten Scheinkranken der Frau Geheimen tut das niemand. Wir Insulaner«, er tippte mit dem Zeigefinger
auf seine Brust, »wir kennen die See und fürchten sie.« Er runzelte die Stirn. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Also, deine Mutter schwamm als Fischweib ins Meer hinaus und kehrte mit den ersten Sonnenstrahlen als Mensch wieder zurück. Auf zwei ganz gewöhnlichen Beinen! In der Zeit des abnehmenden Mondes, so sagten die Leute, tat sie Gutes. Doch wenn er sich wieder rundete, dann geschahen manchmal schlimme Dinge. Und auch die sprach man deiner Mutter zu. Damals sagten die Leute: ›Wenn du Reemke aufsuchst, dann sieh zuerst, wie der Mond steht‹«
»Das ist doch alles Aberglaube«, rief Jeels aus und schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, dass Krischan zusammenzuckte. »Wie können die Menschen so etwas nur für bare Münze nehmen? Meine Mutter konnte vielleicht schwimmen und liebte es, im Meer zu sein. Mag sein, dass sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Und es mag auch sein, dass sie es verheimlichen wollte, um die Kluft zwischen sich selbst und euch Insulanern nicht noch größer werden zu lassen.«
»Die Menschen hier glauben was anderes.« Krischan zuckte entschuldigend die Schultern. »Sie glauben sowieso nur, was sie wollen, die lassen sich nichts erklären. Du musst vielleicht einmal mit Tedamöh sprechen. Sie ist schon alt und hat zu Zeiten deiner Mutter als Hebamme gearbeitet. Sie war die Einzige, die deine Mutter ab und an besucht hat. Und, ob du es nun wahrhaben willst oder nicht«, er beugte sich zu Jeels vor und legte ihm eine Hand auf den Arm, »deine Mutter konnte wirklich zaubern. Ich habe es als Kind selbst gesehen. Sie hat einem Lahmen, der seit Jahren nicht gehen konnte, wieder auf die Beine geholfen.«
»Ach Krischan«, seufzte Jeels. »Das ist keine Zauberei, glaub mir. Ich werde dir in einer stillen Stunde davon erzählen. Aber jetzt ist genug mit Reden.« Er schob entschlossen den Stuhl zurück. »Es ist Zeit. Ich mache mich auf den Weg zum Friedhof.«
9
T ief in Gedanken versunken schritt Jeels am Wasser entlang. Einer Regung folgend bückte er sich, krempelte die braune Leinenhose auf und streifte seine Schuhe ab. Er zuckte zunächst vor dem kalten Nass zurück, ließ seine Füße dann aber mit wachsender Begeisterung vom Salzwasser umspülen. Es war ein eigentümliches Gefühl, von der rauen See gestreichelt zu werden, und es weckte in Jeels den Wunsch, ganz in das Wasser einzutauchen. Vielleicht hatte seine Mutter ähnlich empfunden. Vielleicht hätte sie ihm das Schwimmen beigebracht. Etwas, das nur wenige Menschen konnten. Vielleicht … Jeels ließ den Kopf hängen. Sie hatte ihm nichts beibringen können. Durfte ihn nicht einmal kennenlernen, und er sie nicht. Diesen Menschen, den er Zeit seines Lebens schmerzlich vermisst hatte. Ob er seiner Mutter hier, auf der Insel, nahekommen würde?
Aus Krischans Erzählungen war deutlich geworden, dass er vieles mit ihr gemeinsam hatte. Sie war, genau wie er, misstrauisch beäugt worden. Doch im Gegensatz zu ihr kannte er Menschen, die ihn liebten. Warum nur war sie nicht fortgegangen? Was hatte sie gehalten auf diesem Eiland? War es die Liebe zum Meer gewesen? Zu den Menschen ja wohl kaum! Doch einer der Insulaner musste ihr nahgekommen sein, im Guten oder im Bösen. Denn kein Kind entstand ohne Zutun zweier Menschen, da mochten die Insulaner noch so sehr an Zauberei glauben.
Für einen Moment verharrte er mit geschlossenen Augen am Strand. War
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