Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
hatte.
Jeels erhob sich. Ob es noch mehr Gräber gab, deren Grabtafeln Hände zierten? Er schaute sich suchend um. Schmetterlinge, Engel, Schlangen, aber keine Hände. Doch plötzlich sprang ihm der Name van Voss ins Auge. Aufregung erfasste ihn, und er trat näher. Die Zeichen auf dem Holz waren kaum mehr auszumachen. Jeels bückte sich und ließ seine Finger über die Buchstaben gleiten.
»Jeelke van Voss«, murmelte er leise. Es musste das Grab seiner Großmutter sein. »Nach dir bin ich benannt.«
Dankbar dachte er an seinen geliebten Ziehvater, der diesen Namen gewählt hatte. Auch die Beerdigung seiner Mutter hatte er damals bezahlt.
»Ich wollte, dass sie sanft ruht. Es war mir ein Bedürfnis!«, gingen ihm die Worte aus dem Brief durch den Kopf.
Und dann fand Jeels auf dem alten Teil des Friedhofs noch ein Grab, in dem ein van Voss zur letzten Ruhe gebettet lag. Den Vornamen und die Daten konnte Jeels nicht mehr entziffern. Hier auf der Insel verwendete man sehr lange Grabtafeln, um sie tiefer einrammen zu können, wenn der untere Teil in der feuchten Erde vermodert war. So kurz und verwittert, wie
die Holztafel vor ihm war, musste dieses Grab wahrlich alt sein. Auch die Schnitzarbeit war nur noch schwer zu erkennen. Wieder waren Hände abgebildet, aber diesmal enthielten sie keine Muscheln. Jeels kniff die Augen zusammen. Die Hände waren mit Wasser gefüllt! Und da war noch etwas. Es sah aus wie ein im Wasser liegender Dreizack. Was hatte das zu bedeuten? Jeels legte beide Hände an das Holz und versuchte, anhand des Reliefs die Buchstaben zu erspüren. Es könnte Ude heißen, oder Udo. Wer war dieser unbekannte van Voss ? Einer seiner Vorfahren? Er musste es herausfinden.
In Gedanken versunken hielt Jeels die Stehle lange umfasst. Dann richtete er sich seufzend auf. Wie hieß noch die alte Insulanerin, von der Krischan gesprochen hatte? Ach ja, Tedamöh. Vielleicht wusste sie mehr über seine Mutter und über den geheimnisvollen van Voss, der zu seinen Füßen ruhte. Vielleicht konnte sie ihm auch die Abbildungen auf den Grabdenkmälern erklären.
Er würde diese alte Frau aufsuchen, aber nicht mehr heute. Ihm fiel ein, dass er wohl auch am morgigen Tag keine Zeit dafür finden würde. Montags kam das Schiff mit den Lieferungen vom Festland nach Wangerooge, und er musste seine Bestellungen abholen. Es gab wohl einen Kaufmann auf der Insel, der alleine das Privileg hatte, Waren anzubieten. Doch nach Auskunft von Krischan war dieser selten gut bestückt und beileibe nicht immer gewillt, jedem alles, was er sich wünschte, zu verkaufen.
»Im letzten Winter hat uns dieser scheinheilige Geizkragen eine unfreiwillige Fastenzeit beschert«, hatte sich Krischan bitter beklagt. »Seine Vorräte waren angeblich aufgebraucht. Aber ich kann dir sagen, er selbst und seine Freunde lebten wie die Maden im Speck. Der Wirt und einige andere hitzköpfige Insulaner haben sich schon mehrfach bei der Obrigkeit darüber beklagt, doch zur Zeit der Eisblockade, als wir hungerten,
drang keine Klage bis ans Festland, und zu anderen Zeiten sind solche Beschwerden wirkungslos.«
Und so hatte Jeels beschlossen, sich lieber auf die Belieferung durch den Dampfer zu verlassen. Dieser brachte zweimal wöchentlich nicht nur Gäste, sondern nahm auch Bestellungen entgegen und lieferte Waren aus. Im Stall hatte Jeels zwei Handwägelchen entdeckt, mit denen sich der Einkauf bequem zur Kate bringen ließe.
Schließlich wandte sich Jeels vom Friedhof ab und dem Dorf zu. Er wollte sich mit Krischan bei der Gaststube Zum Ankerplatz treffen. Die nun schon tiefer stehende Sonne hatte an Kraft verloren. Jeels stemmte sich entschlossen gegen den auffrischenden Wind. Nach allem, was Krischan ihm erzählt hatte, war ihm beim Gedanken an die Einheimischen nun noch mulmiger zumute. Würden die Insulaner in ihm den Sohn der Mutter erkennen?
10
D ie Gaststube Zum Ankerplatz war ein großer gemütlicher Raum, in dem es an den Sonntagnachmittagen licher Raum, in dem es an den Sonntagnachmittagen lebhaft zuging. Die meisten Männer waren auf See. Sie heuerten im Frühjahr an und kehrten erst im Herbst wieder zurück. Doch die verbliebenen Insulaner trafen zusammen, um Karten zu spielen oder sich einfach nur ein gutes Bier zu gönnen. Es roch appetitlich nach der Suppe, die die Wirtin, eine rundliche Frau mit weißer Schürze, ihren hungrigen Gästen anzubieten hatte. Heute stand sie hinter dem Tresen und schaute verdrießlich drein. Ihre Augen
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