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Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman

Titel: Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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schämen musste. »Ja, ich habe eine außergewöhnliche Gabe«, sagte er fest, »und ich nutzte mein Können, um Menschen zu helfen.« Jeels erzählte der Alten, dass er Arzt war. Zu seinem eigenen Erstaunen breitete er sein ganzes Leben vor ihr aus. Mit unbewegter Miene hörte sie ihm zu.
    »Ist dein Können eine schwere Bürde für dich?« Ehrliches Interesse sprach aus ihrer Frage.
    Jeels schüttelte den Kopf. »Ich sehe es eher als ein Geschenk und habe niemals daran gedacht, es zu meinem eigenen Vorteil zu nutzen. Die Gabe macht mich sehr empfänglich für Spannungen und Gefühle zwischen den Menschen. Und manchmal brennt es höllisch in meinen Händen. Aber ich hatte das Glück, unter liebevollen Augen aufzuwachsen, und so mit meinem Können umgehen zu lernen. Niemals habe ich etwas verbergen müssen vor meinem Ziehvater.«
    Tedamöh nickte nachdenklich. »Das hoffte ich damals, als ich dich in seine Hände gab. Dieser Mann besaß ein großes Herz, auch wenn er es zu dem Zeitpunkt unseres Kennenlernens vielleicht noch nicht wusste. Ich bin froh zu hören, dass ich mich nicht getäuscht habe. Ich glaube dir, dass du Gutes tust.« Die Insulanerin schaute ihn wohlwollend an und ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken. »Da ist so was in deinen Augen. Weißt du, es gab genug von deiner Art, die ganz anders waren …« Ihr Blick schweifte ab ins Leere.
    Jeels hatte sich angespannt aufgerichtet und umschloss die Armlehnen des Stuhls mit beiden Händen. »Erzählen Sie mir
davon, bitte. Von meiner Mutter, meinen Vorfahren. Wer waren sie, und woher kam meine Familie?«
    »Familie?«, entgegnete sie abschätzig. »Eine Familie gab es für keinen van Voss. Auch für deine Mutter nicht.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Doch mein Jungchen, eines vorweg: Wenn du dich mit mir unterhalten willst, dann lass mal das höfliche Getue beiseite. Ich bin Tedamöh und keine Hochgestellte, die man siezen muss.«
    Jeels nickte ergeben, bevor seine nächste Frage aus ihm heraussprudelte. »Du sagst, es gab keine Familie für uns?« Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Es muss doch Eltern und Kinder gegeben habe, Großeltern …«
    »Nein.« Nur dieses eine Wort. Dann schwieg Tedamöh eine Weile. »Lass es uns anders angehen«, sagte sie schließlich. »Ich werde dir von dem ersten van Voss erzählen, damit du begreifst, was ich meine. Sein Aussehen wird dir bekannt vorkommen, denn auch er verfügte über jene auffälligen Merkmale, die alle van Voss seit jeher gemein haben. Er war ein Mann von kleinem Wuchs, doch gleichwohl stolzer Haltung, mit rotem Haar und einer Augenfarbe so grüngrau wie das Meer. Von welchem Geschlecht er abstammte, weiß niemand zu sagen. Er sei hier gestrandet, erzählen die Alten. Aus dem Meer gekommen, sagen sie. Kein Schiff war in der Nähe und niemand hatte etwas von einem Unglück vernommen. Dein Vorfahre wusste angeblich selbst nicht mehr, wer er war und woher er kam. Und so nannten ihn die Insulaner van Voss, vom Fuchs, wegen der roten Haare. Es kam das Gerede auf, er entstamme einer fremden Art, er sei ein Meermann, verstoßen von seinem Volk. Das rote Haar und die ungewöhnlichen Augen verstärkten die Vermutung noch.
    Andere glaubten, der Teufel habe ihn geschickt, und in dessen Auftrag übe er seine unheimlichen Fähigkeiten aus. Denn dein Vorfahre vermochte wahrhaft Seltsames. Der Mann konnte
Dinge erspüren, die kein Auge sah. Er konnte Heilung bringen, wo es keine Hoffnung mehr gab. Aber auch Unglück verbreiten und Menschen und Tiere zu Krüppeln werden lassen.
    Der erste van Voss machte eine große Sache aus seiner Gabe. Fragte man ihn um Hilfe, so bedurfte es dreier brennender Kerzen und vieler Beschwörungsformeln, bevor er sein Tun begann. Und glaub nicht, dass er jedem nur half! Im Gegenteil! Es wird erzählt, dass er Vergeltung suchte, indem er durch kräftiges Händeschütteln Gliedmaßen ausrenkte, oder seinen Feinden Verwünschungen an den Kopf warf, die sich erfüllten. Wasserstellen versiegten, Häuser wurden Opfer des Sturms, Tiere verendeten. All dies rechnete man ihm zu.
    Der erste van Voss genoss die Macht, die er besaß, und schürte den Aberglauben der Insulaner. Er sprach selbst davon, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Am Ende fürchtete sich jedermann vor ihm, und so war dein Stammesvater wohl mächtig, aber, wie jeder van Voss nach ihm, auch einsam. Es wird erzählt, dass er im Alter zusammenschrumpfte, irgendwie kleiner wurde und breiter. Garstig und wundersam

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