Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
morgens erwachte er lächelnd mit dem Meeresrauschen im Ohr. Es wehte ein frischer Wind, und Jeels genoss es, sich ihm entgegenzustellen. Während der Schäferhund immer einige Schritte vorauseilte, hing Jeels seinen Gedanken nach. Sie gingen unweigerlich zu der Fremden, die vor nicht allzu langer Zeit auf die Insel gekommen war, um den Badearzt zu heiraten.
Wie gut, dass er nicht zu der Trauung gegangen war. Er hätte es nur schwer ertragen. Diese Frau brachte Unruhe in sein Herz, das sich doch gerade erst wieder von der Trauer um den Vater erholte.
Jeels presste die Lippen zusammen. Er hatte sich in den letzten Jahren manches Mal eine Partnerin gewünscht. Da war die Sehnsucht in ihm nach einem Menschen, dem er voll und ganz vertrauen konnte. Der Traum von einer Gleichgesinnten, bei der man wusste, dass alles, was man sagte, verstanden würde, und bei der man sich geborgen fühlte. Und nun war es ihm, als sei sie, diese Fremde, der Mensch, den er ersehnt hatte.
Sicher nur eine Verrücktheit von ihm, geboren aus der Einsamkeit, die ihn fern von allem Vertrauten hier umgab. Er kannte diese Frau überhaupt nicht, wusste nicht, was sie dachte
und fühlte. Seine Empfindungen waren einfach lächerlich! Außerdem war sie für ihn jetzt ohnehin unerreichbar.
Jeels stöhnte leise auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. War sie jemals erreichbar gewesen? Wieder und wieder stellte er sich diese Frage. Hatte er eine Chance vertan?
»Worin hätte die Chance denn wohl bestehen sollen?«, fragte eine zynische Stimme in ihm. »Hättest du sie etwa anflehen sollen, ihr Tun zu überdenken, mit dir zu kommen, statt dem Badearzt zu folgen? Sie hätte dich für verrückt gehalten!«
Sein Herz schlug jetzt so heftig, dass er meinte, das Geräusch müsste die Brandung übertönen, die auch in den Dünen noch zu hören war. Jeels blieb stehen und sah lange zu den Wolken am Himmel auf. Gleichmütig glitten sie dahin und ließen ungerührt das Land unter sich zurück. Langsam beruhigte er sich. Sein Verstand gewann wieder die Oberhand. Was auch immer hätte sein können - es war zu spät! Warum also noch grübeln, warum das Herz quälen? Je eher er sich damit abfand, desto besser.
Jeels zwang sich, die verwirrenden Gedanken zur Seite zu schieben und sich auf das zu konzentrieren, was heute sein Anliegen war. Seine Augen suchten nach Benno. Dieser schien sich als Anführer zu fühlen und drehte ihm ungeduldig den Kopf zu. Es war nicht so einfach, dem Hund zu folgen, der trotz seiner Größe elegant durch das Inselgestrüpp glitt. Die Vegetation bestand hier größtenteils aus niedrigem Gebüsch. Aber bald schon konnte Jeels wieder freier schreiten. Der kaum sichtbare Pfad mündete nach einiger Zeit in eine kleine Lichtung, an deren hinterem Rand eine Hütte kauerte. Die Wände des alten Hauses waren weiß gekalkt. Reet lag auf dem Dach, und helle Gardinen zierten die kleinen Fenster. Weit ab von den anderen Häusern stand die Kate in den Dünen. Eine schwache Rauchfahne, die in den tiefblauen Himmel aufstieg, war das einzige Zeichen dafür, dass das Häuschen bewohnt war.
Benno war an der Haustür angelangt und setzte sich abwartend auf die Schwelle. Mit seinen goldgelben Augen blinzelte er in die Sonne. Beim Näherkommen bemerkte Jeels, dass die Tür der Kate offen stand. Gut. Dann war zumindest jemand daheim. Er bückte sich, um unter das tiefe Reetdach zu gelangen. Gerade als er durch die Tür treten wollte, stieß er mit einer Frau zusammen. Sie wich keinen Schritt zurück, so dass er wieder ins Freie trat.
»Nanu?« Die Ältere musterte ihn von oben bis unten. »Wer hat denn dich hierhergezaubert?«
Das Gesicht der Insulanerin bestand aus vielen tausend Falten. Um den Kopf gebunden trug sie ein Tuch und aus dem gleichen dunklen Stoff ein Kleid, das schon an zahlreichen Stellen gestopft worden war. Ihre Füße steckten in derben Lederschuhen, die vielleicht einmal einem Mann gehört haben mochten. Das Gesicht der Alten wurde von einem kräftigen Kinn beherrscht, das sich kampfbereit in die Welt zu recken schien. Über dem schmalen Mund saß eine beachtliche Nase. Zwei stahlgraue Augen wanderten neugierig zwischen Mann und Hund hin und her.
»Ich wünsche Ihnen einen guten Tag«, sagte Jeels höflich und nahm die Mütze vom Kopf.
Die Augenbrauen der Alten flogen in die Höhe, als sie sein rotes Haar sah. »Ah«, murmelte sie leise und seufzte schwer. »Tage mit Überraschungen sind selten gut. Also, was willst du von
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