Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
der Seehund ein prächtiges Tier. Er war fast so groß wie ein übliches Schaukelpferd und musste einmal grau gestrichen gewesen sein.
Krischan gab dem Schaukelseehund einen Schubs. »An so einem Tierchen würde jeder kleine Fratz seine wahre Freude habe. Es ist eine Schande, dass es hier steht und verkommt. Einen Pinsel voller Farbe, und das Spielzeug ist wie neu.«
Jeels strich ehrfürchtig über das glatte Holz. »Wer wohl darauf geritten ist?«
Krischan zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Die sind sicherlich schon alle tot und können den Mund nicht mehr aufmachen.« Neugierig sah er sich um. »Hier liegt noch mehr merkwürdiges Zeug.«
Er wies auf Steinkrüge und Gartengeräte. Es gab eine Schubkarre mit Holzrädern und eine Sammlung von Steinen in allen Größen.
An die Wand gelehnt stand eine Leiter, mit Hilfe derer die Männer auf den Dachboden gelangten. Krischan stieß die Giebeltür auf. Da die Sonne nun endlich doch die Wolken durchbrochen hatte, war der Bodenraum mit Licht durchflutet.
»Jeels, hier oben ist nichts außer Heu, einer kleinen Menge Torf und einer ollen Holzkiste. Die könnten wir nach unten schaffen, zu dem anderen Brennmaterial. Sie ist wurmstichig und fällt fast auseinander.« Krischan wies auf eine Truhe, die unter einem Haufen von Seilen zum Vorschein kam.
»Lass mal sehen.« Jeels kniete nieder und löste vorsichtig die Lederriemen. Seine Neugier war geweckt. Die Scharniere ächzten, als der Deckel nach hinten gegen die Wand schlug. Jeels schnappte nach Luft. Vor seinen Augen lagen Kleider, die noch aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen schienen.
Krischan stieß einen Pfiff aus. »Welche reichen Pinkel mögen das wohl getragen haben?«
Jeels hob Stück für Stück die fein säuberlich gefalteten Kleider heraus, strich mit den Fingern darüber und untersuchte sie genau. Feinste Leinenblusen, Kleider mit schneeweißer Spitze an Kragen und Rocksaum, zarte Unterwäsche, denen ein Duft
von Lavendel anhing. Jedes Teil einzeln in Seide eingeschlagen.
»Mein Gott«, keuchte er. »Das sind keine Lumpen, Krischan.«
»Das will ich meinen!« Auch sein Freund war schwer beeindruckt. »Ich habe hier auf der Insel noch niemanden so was Wertvolles tragen sehen. Wem das wohl gehört hat?«
»Ich weiß es nicht. Kannst du den Weidenkorb von unten holen? Dann können wir die Kleider mit ins Haus nehmen. Die Truhe ist tatsächlich nur noch Brennholz.«
Krischan stieg die Leiter hinunter.
Jeels zog eine Seidenbluse aus der Truhe und drückte sie an sein Gesicht. Parfüm schien ihn zu umwehen. Er schloss die Augen und versuchte, sich die Trägerin vorzustellen. Als Krischan mit dem Korb kam, legte er die Bluse sanft hinein. Ein Kleidungsstück nach dem anderen holten sie aus der Kiste, bis diese so gut wie leer war.
»Sieh mal, es gibt sogar noch passendes Fußzeug.« Krischan hielt zierliche Damenschuhe in der Hand. »Das war’s dann aber auch. Ganz unten liegt bloß noch ein dicker Holzklotz.«
Er wollte die Truhe zuschlagen, doch Jeels hielt ihn zurück. Zögernd griff er tief in die Holzkiste und hob seinen Fund ans Licht. Er hielt keinen Holzklotz in Händen, sondern ein Buch.
Jeels wischte mit seinem Ärmel den Staub beiseite und schlug es auf. Mit bebenden Fingern strich er über die Seiten. Sie waren vergilbt und voller Stockflecken. Ein paar Blätter hatten sich gelöst. Jeels’ Augen konnten sich nicht von dem Namen lösen, der auf dem Deckblatt eingetragen war.
»Mensch, Krischan! Es ist das Tagebuch meiner Mutter.« Seine Stimme zitterte. »Hier steht es.«
Er schlug mit bebenden Fingern den Buchdeckel auf. »Es beginnt im März 1823 und endet im Jahr meiner Geburt.«
Jeels blätterte die Seiten um. War die Schrift anfangs hoch
und steil gewesen, so hatte sie sich später dann gefestigt und war schwungvoll geworden.
»Na, dann hast du ja wirklich einen Schatz gefunden«, sagte Krischan. Dann fügte er besorgt hinzu: »Aber willst du wirklich darin lesen? Kann sein, dass dir nicht gefällt, was da drin steht, dass es vielleicht besser ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen. An dem, was passiert ist, kannst du ja doch nichts mehr ändern.«
Jeels schüttelte nur den Kopf. Während Krischan den Weidekorb mit der Kleidung nach unten trug, saß er in sich versunken da und presste den Fund fest an sich. Es war ihm, als spürte er die Anwesenheit der Mutter, und dieses Empfinden war so stark, dass er alles um sich herum vergaß. Er war nicht umsonst auf die Insel gekommen!
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