Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
würde am liebsten zum Meer hinuntergehen und Strandgut sammeln. Ich könnte es wagen. Es ist Mittwoch, und der Lehrer ist vom Festland gekommen. Die anderen werden in der Schule sein und mich in Ruhe lassen.
Vielleicht kann ich bis zum Damenbadestrand laufen und bekomme mit eigenen Augen die Prinzessin aus Weimar zu sehen. Mutter hat erzählt, dass sie, gemeinsam mit einigen Angehörigen des Oldenburgschen Hofes und ihrem Gefolge, das ganze Logierhaus gemietet hat. Der Vogt ist ganz furchtbar aufgeregt wegen der Prinzessin. Alles dreht sich nur noch um sie. Wie mag sie aussehen? Sicherlich hat sie weder rotes Haar noch grüne Katzenaugen, so wie ich.
Aber nun muss ich mich eilen, damit ich am Strand bin, bevor die Schule aus ist …
Sie hatte die Jungen nicht kommen hören. In Reemkes Ohren war nur Raum für das Wellenrauschen gewesen, das sie in fremde Welten trug. Wie von selbst hatten ihre Hände nach dem Strandgut gegriffen und den Korb gefüllt.
Der erste Stein traf sie am Hinterkopf. Das Mädchen schreckte auf, rappelte sich hoch und begann zu laufen, als sie das Johlen hörte. Fort vom Strand, durch den Sand hinauf zu den Dünen. Sie musste das Haus erreichen. Nur dort war sie in Sicherheit.
Ihre nackten Füße jagten über den Sand. Sie schnitt sich an den Muscheln, ohne es zu merken. Reemke rannte und rannte, doch das Schreien und die Pfiffe wurden nicht leiser. Ihr Atem ging keuchend. Sie musste es schaffen. Weiter, nicht stehen bleiben!
Steine flogen ihr um die Ohren. Einer traf Reemke an der Schläfe, doch sie spürte den Schmerz nicht. Die Angst war
schlimmer. Oh Gott, lass sie mich nicht erwischen. Nicht noch einmal. Sie hatte es so satt, gejagt zu werden.
Reemke erreichte die Dünen und hastete an graugrünen Büschen vorbei. Stachelige Ranken rissen ihr die Beine auf. Möwen schrien gellend, als wollten sie das Mädchen zu noch größerer Schnelligkeit antreiben.
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie konnte nicht mehr, und das Johlen kam näher. Oh Gott, diesmal würden sie sie bestimmt totschlagen!
Die erste Hand griff nach ihr. Reemke schüttelte sie ab, doch dann holten auch die anderen sie ein. Sie landete auf dem Boden und kniff fest die Augen zu. Nur nichts sehen. Wenn sie doch auch das Fühlen ausschalten könnte und das Hören. Hände packten sie wie ein Beutetier und rissen an ihren Kleidern. Keuchen um sie herum und triumphierendes Gejohle.
»Haben wir dich, du Satansbrut. Sollst sehen, was wir mit den Kindern des Teufels anfangen. Eine schwarze Katze haben wir nicht gefunden, aber mit einem toten Kaninchen wird es auch gehen. Du wirst uns nicht wieder den Fischfang verderben und den Sturm herbeisingen! Und deinen Vater, den kriegen wir auch noch.«
Es waren die älteren Jungen des Dorfes, die jetzt ans Werk gingen. Als sie von ihr abließen und verschwanden, kroch Reemke zu dem Inselgestrüpp vor ihren Augen und kauerte sich darunter nieder, wie ein Tierchen in seinem Versteck. Anfangs war der Schmerz stärker als alle anderen Gefühle. Sie presste die Faust vor den Mund, um nicht zu schreien.
Die Haut brannte von den Schlägen und Blut rann über ihre Arme. So konnte sie sich nicht nach Hause wagen. Mutter würde es nicht überleben. Reemke rollte sich ganz klein zusammen. Sie hörte den eigenen Herzschlag donnern wie die Kanonenschüsse, mit denen die Gäste begrüßt wurden. Bitte lass nicht zu, dass jemand mich findet. Nicht jetzt, nicht so.
Übelkeit stieg in ihr auf. Sie musste zum Meer, um sich zu waschen. Das Salzwasser würde die Wunden reinigen, so dass sie heilen könnten.
Die Jungen hatten ihr die Kleider vom Leib gezerrt, das Kaninchen aufgeschlitzt und sie mit dem Blut und den Eingeweiden besudelt. Einer von ihnen hatte ein Messer gezogen und ihr ein Kreuz in den Oberarm geritzt. Es hatte Reemke all ihre Kraft gekostet, aber sie hatte keinen Ton von sich gegeben. Dafür waren Burschen um so lauter gewesen.
»Hau ab von hier, du Satansbrut, sonst war dies nicht das letzte Mal. Scher dich zum Teufel, wo du hingehörst!«
Dann waren sie triumphierend davongestoben.
Reemke kroch mühsam aus ihrem Versteck und sah sich verstört um. Sie wünschte, sie hätte die Augen nicht aufgemacht, als Harm ihr das Kreuz einritzte. Sie hatte seinen schnellen Atem gehört, das Blut an seiner Halsschlagader pulsieren sehen. Da war dieser Ausdruck auf seinem Gesicht gewesen, den sie nie würde vergessen können. Dieser Junge hielt sie wirklich und wahrhaftig für verflucht!
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