Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Er glaubte, dass es richtig war, was sie taten. Notwendig. Und es hatte ihm gefallen, sie niederzuzwingen. Diesen Ausdruck hatte sie auch schon auf dem Gesicht des Pastors gesehen, wenn er sie anschaute. Etwas Gewalttätiges ging dann von ihm aus, so als könne er sich nur mühsam davon abhalten, sie zu schlagen. So als sei sie ein Ungeziefer, das vernichtet werden musste.
Reemke stand ächzend auf. Sie griff nach ihrer Kleidung und schleppte sich langsam zum Meeressaum. Bluse, Rock und Unterwäsche legte sie in den Sand, um dann unbeirrt ins Wasser zu schreiten. Hierher würde ihr niemand folgen! Im Meer war sie in Sicherheit. Alle auf der Insel fürchteten die See. Kaum jemand konnte schwimmen. Reemke hatte es schon in ganz jungen Jahren von ihrer Mutter gelernt. Die anderen Bewohner Wangerooges hielten die Lust am Wasser für
etwas Absonderliches. Deshalb schwamm Reemke nur heimlich. Manchmal, an heißen Sommerabenden, konnte sie es kaum abwarten, dass die anderen Insulaner den Strand verließen. Dann lag sie oben in den Dünen und ging erst ins Wasser, wenn es fast schon dunkel wurde.
Doch es war etwas anderes, ob man zum Vergnügen in die sommerlichen Fluten stieg oder in eisige Märzwellen tauchte, um sich Blut und Gedärme vom Körper zu waschen. Die Kälte des Wassers verschlug ihr den Atem. Reemkes Zähne klapperten aufeinander. Dennoch watete sie weiter hinein, bis die Wellen gegen ihre Oberschenkel klatschten. Es kostete sie große Überwindung, doch dann ließ sie sich langsam bis zu den Schultern ins Wasser sinken. Wieder und wieder fuhr sie mit den Händen über ihre Haut, bis von den Innereien des toten Tieres und dem Blut nichts mehr an ihr klebte.
Schauer liefen über Reemkes Rücken, und ein leiser Schluchzer entstieg ihrer Kehle. Doch dann straffte sie die Schultern und streifte die Demütigungen ab. Sollten die Wellen sie zusammen mit dem Schmutz mit sich fortnehmen. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen! Es sollte ihnen nicht gelingen, sie von hier zu vertreiben. Wohin hätte sie auch gehen sollen? Wangerooge war ihre Heimat, das einzige Zuhause, das sie kannte. Und sie liebte diese Insel. Jeden Halm, jeden Strauch, den Sand und vor allen Dingen das Meer. Sie würde hierbleiben, koste es, was es wolle.
Mit energischen Bewegungen wusch Reemke sich das Haar und wrang es mit den Händen aus. Kein Zweifel, diese schändliche Tat war lange vorbereitet worden. Alle Jungen hatten zusammengearbeitet. Die Wunden brannten immer noch wie Feuer, aber Reemke beachtete den Schmerz nicht. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken. Sie konnte die Quälereien der anderen nicht länger hinnehmen. Es war genug. Sie musste handeln.
Aber was könnte sie nur tun, um ihnen zu entgehen? Sie war den anderen ausgeliefert. Es gab einfach kein Entkommen.
Als ob sie nicht alles versucht hätte, um eine von ihnen zu werden. Doch das war sinnlos. Sie und ihr Vater waren dazu verdammt, als Satansbrut verschrien, gedemütigt und gemieden zu werden. So wie alle van Voss in den Generationen zuvor. Rotes Haar und Zauberhände! Dabei hatte sie selbst ihre Fähigkeit nie vor den Augen anderer angewandt. Nicht einmal die Mutter wusste, dass auch sie die Gabe besaß. Aber vielleicht war das genau der falsche Weg gewesen.
Reemke spürte eine unbändige Wut auf die Jungen, auf all ihre Peiniger, in sich aufsteigen. Sie schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Was hatte sie denn getan? Niemand konnte sich den Vater aussuchen. Aber wenn die Insulaner es so wollten, sie so oder so für böse hielten, dann gab es nur eine Möglichkeit. Dann blieb ihr nur, die gereichte Waffe auch zu nutzen. Die Jungen hatten es herausgefordert. Sie würde ihnen den Teufel auf den Hals hetzen. Vielleicht gaben sie dann endlich Ruhe.
Entschlossen wandte sich Reemke wieder dem Strand zu und schritt langsam aus dem Wasser. Mit der getroffenen Entscheidung überkam sie eine große Gelassenheit. Sie würde einsam sein. Aber war sie das nicht immer gewesen? Genügte ihr nicht die Mutter - der einzige Mensch, den sie liebte -, um zufrieden zu sein? Das Meer konnte sie nicht missen, und Reemke wollte nur eins: in Frieden hier leben.
Dass ein Augenpaar sie von ferne beobachtete, wusste das Mädchen nicht. In den Dünen hockte ein Mann, der ihr mit zusammengekniffenen Augen beim Bad zugeschaut hatte. Er leckte sich die Lippen, als Reemke aus dem Wasser stieg.
»Sieh einer an«, murmelte er. »Dacht ich’s mir doch! Die
ganze Brut kommt aus dem
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