Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Es gab eine Brücke zur Vergangenheit. Und er hielt sie in den Händen!
»Jeels? Alles in Ordnung mit dir? Oder brauchst du nach der Aufregung vielleicht einen Schnaps?«, klang es von unten zu ihm herauf.
Widerstrebend kehrte Jeels in die Realität zurück. »Alles ist gut, Krischan. Ich komme schon. Die Kiste lasse ich erst mal hier oben stehen.«
Er verschloss die Riemen der Truhe, nahm seinen wertvollen Fund wieder an sich und stieg die Leiter hinunter. Der Gedanke an das Tagebuch ließ ihn während des ganzen Tages nicht los.
Sie hatten den Stall ausgekehrt, das Stroh aufgeschichtet und die Steine in eine große Kiste umgelagert. Nachdem alle Reparaturarbeiten erledigt waren, hatte Krischan es sich nicht nehmen lassen, dem Seehund einen neuen Anstrich zu geben. Am Nachmittag war Jeels ins Dorf gegangen, um die Vorräte aufzufüllen.
Jetzt, nach einem Nachttrunk aus warmer Milch mit Honig,
löschte Krischan das Licht in der Küche, wo er schlief. »Wird Zeit für mich. Der Morgen kommt immer so schnell! Du siehst auch erschöpft aus, wenn ich das so sagen darf. Gehst du noch mit Benno raus?«
Jeels schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Vielleicht lese ich ein wenig in dem Tagebuch.«
Krischan gab ein missbilligendes Schnalzen von sich. »Solltest auch besser in deine Butze kriechen.« Dann wünschte er ihm eine gute Nacht und schnarchte kurz darauf bereits friedlich.
Jeels zog sich in den Wohnraum zurück. Es war gut, dass die Schlafkojen sich in verschiedenen Räumen befanden. So störte es Krischan nicht, wenn er später zu Bett ging oder noch las.
Jeels trat ans Fenster. Es war während des Tages immer stürmischer geworden. Das Ächzen der Balken und das Klirren der Fenster übertönten fast Krischans lautes Schnarchen. Zum ersten Mal fühlte Jeels sich vom Wüten der See bedroht. Die Unruhe der Elemente übertrug sich auf ihn. Vielleicht war es wirklich keine so gute Idee, das Buch zu lesen.
Vom Fenster aus konnte er im Halbdunkel die Konturen des Stalls ausmachen. Er drehte sich um und ließ seine Augen durch den Raum wandern. All das gehörte ihm. Dieser Grund und Boden auf der Insel, dieses Haus, abgeschieden vom Dorf. Das Erbe seiner Mutter! Das Wissen darum, dass auch sie hier gelebt hatte, machte ihm das Haus vertraut. Er gehörte hierher, aber Heimat würde ihm Wangerooge erst werden, wenn er wusste, was vor seiner Zeit geschehen war. Er musste sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben, um hier wirklich und wahrhaftig ankommen zu können.
Jeels setzte sich seufzend an den neuen Sekretär, den der Tischler ihm angefertigt hatte, stützte die Ellenbogen auf die Schreibplatte und verbarg das Gesicht in den Händen.
Bennos leises Bellen ließ ihn aufschrecken. Bittend sah der Hund von seinem Lager, das aus einer Wolldecke bestand, zu ihm auf. Doch Jeels schüttelte nur den Kopf. Nein, heute würden sie nicht an den Strand gehen. Der Drang, das Tagebuch zu lesen, war größer.
16
J eels zündete eine zweite Lampe an und griff nach dem Tagebuch. Er schloss die Augen, und seine Hände strichen liebkosend über den Buchdeckel aus dunklem Leder. Als er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, war ihm, als dringe leise eine alte, schwermütige Melodie an sein Ohr. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. Erschrocken riss er die Augen auf - doch der Raum war leer.
»Lächerlich. Die Fantasie geht mit mir durch«, sagte er laut zu sich selbst. Er musste sich zusammennehmen.
Jeels schlug die erste Seite auf und das Licht der Lampe fiel auf die dunklen Zeichen. Das Blatt war bedeckt mit der anfangs noch steilen Schrift. Die dicht aneinandergesetzten Buchstaben vermittelten den Eindruck von drängender Eile. Vielleicht hatte seine Mutter in dem Tagebuch nur heimlich schreiben können. Die Tinte war kaum verblasst, so als wäre der Eintrag erst gestern vorgenommen worden. Er bemerkte das Datum: 25. März 1823. Seine Mutter musste damals dreizehn Jahre alt gewesen sein. Jeels begann zu lesen.
Ich stehe am Fenster und sehe hinaus, bis meine Augen in Gedanken beim Meer angekommen sind. Noch weht ein eisiger Wind über die Insel, aber bald schon wird es Frühling werden. Der Himmel ist voll von grauen Wolken. Mutter meint, es könnte schneien heute Abend, aber ich glaube nicht daran. Die Vögel erzählen
etwas anderes. Hier auf Wangerooge braucht man nur die Augen aufzuhalten, dann weiß man, wie das Wetter wird.
Ich
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