Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
den Seehund gehört mit zu den Hauptvergnügungen leidenschaftlicher Jäger. Darum werde ich sie Ihnen natürlich nicht vorenthalten«, erklärte die Hofrätin und sah freudestrahlend in eine Vielzahl erregter Gesichter.
Etliche Gäste hatten sich von ihrer Begeisterung anstecken lassen. Wemke verfolgte das Geschehen mit Unbehagen. Sie befanden sich in der Nähe einer Sandbank, die mit der Ebbe trockenlief. Hier sonnten sich die Meerestiere häufig oder schwammen im Wasser herum.
Der kalte Wind der letzten Tage hatte aufgehört. Die Luft war frisch und leicht. Schon am Morgen hatte die Sonne das karge Grün der Insel in glänzendes Licht getaucht. Jetzt beschien sie die grau in grau gekleidete Jagdgesellschaft der Frau Geheimen. Alle trugen lange Seestiefel, graue Hosen und gleichfarbene Jacken mit Kapuzen. Sie sahen in diesem Aufzug aus wie Gäste eines merkwürdigen Maskenballs. Erwartungsvoll umringten die Damen und Herren die Hofrätin.
»Die Jagd ist keineswegs einfach und erfordert einiges an Wissen über die Robben und ihre Lebensgewohnheiten«, fuhr die Frau Geheime fort. »Ein ungeübter Jäger schafft es nur selten, ein Tier zu erlegen. Seehunde sind wachsam und schlau und wissen scheinbar ganz genau, wann sie untertauchen müssen.«
»Hoffentlich«, dachte Wemke.
Einige Einheimische waren ihnen bei der Wanderung zu
diesem Teil der Insel begegnet. Die Erwachsenen hatten nur verständnislos die Köpfe geschüttelt, während die Kinder sich vor Lachen ausgeschüttet hatten. Besonders der Hofrat war ein Opfer ihrer Hänseleien gewesen. Mit ausgestreckten Fingern zeigten sie auf ihn, bliesen die Backen auf und imitierten die Laute der Seehunde. Der Hofrat bot aber auch einen ganz besonderen Anblick. Sein massiger Körper schien jeden Augenblick den Jagdanzug sprengen zu wollen. Er machte einen sehr unglücklichen Eindruck.
»Finchen, Finchen, was verlangst du nur von mir!« Prustend wie ein Walross lief er hinter seiner Gattin her, wandte sich dann aber den anderen Gästen zu. »Ich habe mein Frauchen auf Knien angefleht, fernbleiben zu dürfen, aber sie hat auf meine Anwesenheit bestanden. Mal ehrlich: Wurden Sie etwa auch zu dieser Veranstaltung gezwungen? Wir sind Versuchstiere für diese neue Attraktion meiner Gattin, nicht mehr und nicht weniger. Wenn die Seehunde uns auffressen oder auch nur beißen, dann wird dieser Ausflug künftig von der Angebotsliste meiner holden Herrin gestrichen. Ach, ach, was man alles für die Liebe erdulden muss.«
Die anderen Teilnehmer lachten, während die Frau Geheime für ihren Mann nur ein abfälliges Schnalzen übrighatte.
»Lass das Jammern. An dir würde sich selbst ein Seehund die Zähne ausbeißen. Wenn ich dich so sehe, dann fällt mir auf, dass du einfach zu dick bist.« Sie hatte auf seinen vorstehenden Bauch gewiesen, der die Knöpfe des Anzugs spannen ließ. »Die frische Luft wird dir guttun. Einige Stunden ausgiebigen Jagdsports werden auch die Pfunde zum Schmelzen bringen, und dann passt dir der Anzug vielleicht besser. Ich spreche einmal mit Doktor Hoffmann. Er soll ein Programm mit vielen körperlichen Ertüchtigungen für dich ausarbeiten.«
»Aber Finchen, ich bin ein Mann besten Aussehens. Eine stattliche Figur macht doch einen Mann erst aus«, rief der
Geheimrat weinerlich und strich sich gekränkt über seinen Bauch.
»Mein Lieber, nimm es mir nicht übel, aber wir haben wahrlich Wichtigeres zu erörtern als dein Aussehen.« Damit war die Diskussion beendet gewesen.
Wemkes Aufmerksamkeit wurde jetzt von einem kleinen, drahtigen Insulaner in Anspruch genommen, der mit einem Karren auf sie zueilte.
»Ah, da ist er ja«, rief die Hofrätin. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, hiermit stelle ich Ihnen den langjährigen, erfolgreichen Robbenjäger Dodo Lammerts vor. Er wird unsere Expedition leiten. Es gibt da noch so einige Dinge, die geklärt werden müssen, bevor wir aufbrechen.« Auffordernd blickte sie den Seehundjäger an.
Die Bekleidung des Mannes ähnelte der der Jagdteilnehmer, nur dass seine Jacke vielfach geflickt und die Farbe kaum noch eindeutig zu benennen war. Die Kapuze hatte er trotz der wärmenden Sonne in die Stirn gezogen. Ein zottiger Bart bedeckte Wangen und Kinn, und unter einem Paar blauer Augen ragte eine große Hakennase hervor. Die Hosen, die er aufgekrempelt trug, waren zerschlissen, seine Füße, im Gegensatz zu denen der Gäste, nackt.
Der Mann schien sich äußerst unwohl zu fühlen. Verlegen kratzte er sich
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