Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
wieder aus dem Boot zu steigen.
»Nichts da, du kommst mit!«, befahl seine Gattin. »Ewig überlässt du mir alles, kümmerst dich nur um dein leibliches Wohl und gibst deinen Schlafbedürfnissen nach. Heute werde ich mich einmal durchsetzen.«
Wie ein gerügtes Kind ließ sich der Hofrat ergeben auf seinen Sitz zurückfallen.
Wemke jubelte innerlich, versuchte aber nach außen einen zerknirschten Eindruck zu erwecken.
»Mein liebes Kind, Sie müssen hier nicht auf uns warten, sondern können langsam am Strand zurückwandern«, sagte die Hofrätin entschuldigend. »Die Jagd wird wohl etwas länger dauern. Ach herrje, wie ärgerlich! Es ist mir gar nicht recht, eine junge Frau alleine zurückzulassen. Und dass Sie um dieses einmalige Erlebnis gebracht werden, ist doch wirklich zu schade.« Dieser Vorwurf zielte auf den Seehundjäger, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.
»Bitte gehen Sie geradewegs zurück zur Badeanstalt. Der Tag steht natürlich, wie abgemacht, zu Ihrer freien Verfügung«, rief die Hofrätin noch, während die Boote ablegten.
Dodo stieß das letzte Boot an, so dass es knirschend ins Wasser glitt. Mit einem Satz sprang der Seehundjäger hinein und griff nach den Rudern. Die Gäste winkten noch einmal und wandten sich dann der Sandbank zu.
Eine Weile sah Wemke den Booten nach, dann machte sie sich mit einem Gefühl ungeheuerer Erleichterung auf den Weg.
21
W ie herrlich«, dachte sie. »Ein geschenkter Tag, den ich ganz für mich alleine habe. Vielleicht kann ich am Nachmittag mit Freya zum Strand.«
Vormittags gab es für die Kinder ein festes Programm, das nur in Ausnahmefällen unterbrochen werden durfte.
Es blies ein schwacher Wind, der die Wellen an den Meeressaum tänzeln ließ. Die See schien heute noch zu schlafen, doch die Sonne drang schon kräftig durch das Himmelsdach.
Die dicken Seestiefel drückten und kurz entschlossen bückte Wemke sich und zog sie aus. Wie befreiend, Luft und Wasser auf der Haut zu spüren. Träumerisch verharrte sie, dann jedoch ließ ein dumpfes Geräusch sie erschreckt hochfahren. In nächster Nähe fuhr ein Fischerboot am Strand vorbei. Geisterhaft senkten sich die Fangnetze ins Meer und griffen in der Tiefe nach den Gaben der See. Wemke hörte leise die rauen Stimmen der Fischer und sah sie geschäftig auf Deck herumeilen.
»Eine winzige Welt für sich auf Planken aus Holz«, dachte sie.
Während die Sonne immer höher stieg, verschwand das letzte Grau des Morgens. Es versprach noch einmal ein warmer Tag zu werden. Vielleicht einer der letzten dieses Jahres.
Wemke wandte sich, entgegen der Anweisung der Hofrätin, den Dünen zu. Auf halbem Weg blickte sie sich noch einmal um. Das glatte blaue Meer lag mit einem leuchtend weißen
Brandungskranz um die grüne Insel. Am Himmel zogen Perlenketten schwarzer Tauchenten gen Süden.
Wie wunderschön es hier war! Wemke beobachtete verträumt die in der Sonne flimmernden Vogelleiber, bis nur mehr winzige Punkte übrig blieben. Wo Meer und Himmel fast verschmolzen, konnte sie in der Ferne ein prächtiges Schiff ausmachen. Im funkelnden Licht sah es aus, als ob es über dem Wasser schwebte.
»Ob es wohl Seide und Tee aus China geladen hat?«, überlegte Wemke. »Oder vielleicht Gewürze und Kaffee aus Java und Arabien. Und welche Waren wird das Schiff nach dem Löschen wieder mitnehmen in ferne Länder?«
Wie es wohl wäre, die Welt zu bereisen? Fühlte man sich frei, so wie die Vögel am Himmel? Sie vermeinte deren grenzenlose Freiheit zu spüren und fühlte sich in diesem Augenblick losgelöst von allem. Was konnte es Schöneres geben, als sich von dem lauen Wind treiben zu lassen, um sich herum den Duft der Inselblumen und über sich den Horizont aus Fluten von Blau, auf denen weiße Schäfchenwolken trieben.
Wemke beschattete die Hand mit den Augen und sah sich mit einem glücklichen Lächeln um. Sie war allein und dieser Tag gehörte ihr! Ihre Augen wanderten vom Himmel zum Meer und zurück zum Grün der Insel, um dann zu verharren. Was war denn das?
Zuerst hielt sie den sich bewegenden Punkt für ein Tier, doch dann erkannte Wemke voller Schrecken, dass ein Mensch auf sie zukam. Sollte sie die Flucht ergreifen? Wenn es nun wieder dieser grässliche Wiltert war? Er schien immer in ihrer Nähe herumzuschleichen. Doch dann erkannte sie den Hund an der Seite des Mannes und ihr Herz tat einen Sprung. Es war Jeels!
Vielleicht sollte sie sich lieber schnell umwenden und vortäuschen, ihn nicht
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