Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
eines nicht beklagen konnte, dann über mangelnden Augenschmaus. Die Damen liebten es, sich herauszuputzen und ihre körperlichen Vorzüge zur Geltung zu bringen. Frau Bartling hatte schon oft betont, dass selbst am Oldenburgischen Hof keine schöneren Kleider zu finden seien, als sie die Gäste hier vorführten.
Es gab kaum einen größeren Kontrast als den zwischen den Gästen in ihren königlichen Roben und den Insulanern, deren Sorge um das tägliche Brot all ihr Denken in Anspruch nahm. Seit Generationen führten die Wangerooger ein karges Dasein. Kleidung und Aussehen war eher nebensächlich. Sie kämpften ums Überleben! Wemke fragte sich, was in ihnen vorgehen mochte angesichts des Reichtums, den sie täglich vor Augen hatten. Ihre Kinder liefen bis zum heutigen Tag zumeist barfuß, weil das Geld für Schuhe fehlte.
Die Stimme des Oberstudienrates drang wieder in ihre Gedanken. »Mit den Damen hier ergeht es mir ähnlich wie zu Knabenzeiten mit Torten. Eine brennende Sehnsucht überfiel mich immer, wenn solch ein Backwerk, von dem ich nichts bekommen sollte, offen an mir vorbeigetragen wurde. Jetzt überfallen mich dieselben Gefühle, wenn ich die modisch entblößten Damen vorbeiflanieren sehe. Ich sage Ihnen, die Frauen wollen uns verlocken, unseren Appetit wecken. Und, ganz im Vertrauen, ich bin in den letzten Jahren, in denen ich zur Sommerfrische hier weilte, voll auf meine Kosten gekommen.«
Missbilligendes Gemurmel wurde laut. Nicht allen Männern schien zu gefallen, was der Oberstudienrat von sich gab.
»Was für ein Lustmolch«, dachte Wemke angewidert, als sie die Zeitung von sich schob. Sie würde nicht länger bleiben und sich Derartiges anhören.
»Natürlich lässt sich die Erfüllung der eigenen Wünsche nicht auf alle Damen ausweiten«, fuhr der Oberstudienrat lauthals fort. »Wenn ich so an die junge Frau von Dr. Hoffmann denke … Mmh, die würde ich ja zu gerne einmal …« Er ließ den Satz unvollendet ausklingen. »Aber das geht natürlich nicht. In solchen Fällen kann man dann eben nur in seiner Fantasie die Zweisamkeit genießen.«
»Das geht jetzt aber wirklich zu weit!«, rief eine tiefe Männerstimme. Ein Stuhl wurde scharrend zurückgeschoben.
»Meine Herren, bevor es zum Streit kommt, lassen Sie uns lieber über die anstehende Seehundjagd plaudern.« Der beruhigende Bass gehörte dem Kaufmann Teeling aus Oldenburg.
Wemke war bei den Worten des Oberstudienrats abwechselnd rot und blass geworden. Mit entschlossenen Schritten verließ sie das Zimmer.
Auf dem Rückweg zu ihren Räumlichkeiten verblasste der Zorn ein wenig. Es würde immer wieder Gäste geben, die ihr unsympathisch waren. Das ließ sich nicht verhindern. Und Oberstudienrat Gehrmann wusste zumindest, wo seine Nachstellungen ihre Grenzen hatten. Ganz im Gegensatz zu einem anderen Mann. Wemke lief ein Schauer über den Rücken, als sie an den Gastwirtssohn dachte. Nie wieder war sie seit der Begegnung am Strand abends alleine unterwegs gewesen.
Warum nur stellten ihr hier die Männer nach? Das war ihr doch früher nicht passiert. Doch dann fiel Wemke der Sohn der Justizrätin in Jever ein. Auch er hatte ihr schöne Augen gemacht. Sie hatte es nur nicht bemerkt. Es hatte ihr damals an Lebenserfahrung gemangelt, und die Sorgen um die Zukunft waren zu groß gewesen, um den Aufmerksamkeiten junger Männer Beachtung zu schenken. Hier auf Wangerooge ging
es ihr in finanzieller Hinsicht gut. Und das war viel wert. Sie mochte nicht mehr an die vor Sorge durchwachten Nächte in Jever denken.
»Dafür bin ich hier allerdings der Willkür der Hofrätin ausgeliefert«, dachte Wemke. Bei diesem Stichwort wanderten ihre Gedanken zu dem zum Schluss von Kaufmann Teeling angeschnittenen Gesprächsthema: der Robbenjagd. Wie sie diese possierlichen Tiere liebte! Es war ihr unvorstellbar, einer Jagd auf sie beizuwohnen. Und doch bestand die Hofrätin darauf, dass sie bei dieser besonderen Veranstaltung, die in wenigen Tagen stattfinden sollte, anwesend war.
»Ich werde Sie für diesen Tag sogar vom Dienst befreien«, hatte die Frau Geheime gnädig beschlossen, »damit Sie an der Jagd auf die Flossensäuger teilnehmen können. Jeder, ob Mann oder Frau, muss so etwas gesehen haben! Ich habe eigens eine besondere Jagdkleidung für die Gäste fertigen lassen. Wissen Sie, meine Liebe, manch eifriger Jäger wählt den Aufenthalt auf meiner Insel nur, um unsere fremdartigen Seeungeheuer zu erlegen.« Ihre Augen hatten stolz gefunkelt.
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