Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
angereist war … Sie dachte wieder an die junge Frau in dem weißen Kleid mit ihrer Wespentaille und ihren hellen, von Tüll verschleierten Augen. Ihre Wichtigtuerei würde Tam immer im Wege stehen, jemals die Zuneigung für sie zu verspüren, die sie für Paul d’Armand empfunden hatte. Außerdem hatte er ihr von einem »witzigen und schelmischen Mädchen« erzählt!
Als sie in ihrem Zimmer war, zog sie die lange weiße Tunika aus, legte sie auf die Matte, auf der sie schlief, und strich sorgfältig die Falten glatt. Sie hatte nur noch ihr Unterkleid an, ein Stück Stoff in Form eines Dreiecks, das um den Hals hing und um die Taille gebunden war, sodass Schultern und Rücken frei blieben.
Sie nahm ihre Schulsachen und ging hinaus, um sich an den großen Holztisch zu setzen.
»Ich beginne mit Mathematik.«
Ihr Übungsheft öffnete sich auf der richtigen Seite. Die Zahlen und Buchstaben spulten sich vor ihren Augen ab: AD = 2 cm, AB = 5cm, AC = 7cm und DE = 4 cm … Tam lächelte; es kam ihr vor, als hätte sie kleine Wichtel vor sich, die sich über sie lustig machten: »Fang mich, fang mich!«
»Und wie ich euch fangen werde, ihr werdet schon sehen!«, schleuderte sie ihnen wild entgegen.
Und sie vergaß alles Übrige: das Gehalt ihrer Eltern, das nicht überwiesen worden war, den leeren Vorratsschrank, das vornehme französische Fräulein und sogar das, was sie heimlich in der Villa Henriette getan hatte …
Auf der Türschwelle der Villa stellten Tams Eltern sich Antoinette d’Armand vor.
»Wir sind so glücklich! Sie sind trotz allem gekommen, Antoinette! Ich bin Hung und das ist meine Frau Chinh. Ich war der
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Ihres Vaters.!
»Der
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?«
»Der Koch«, erklärte Hung mit stolzer Miene.
»Wir wussten ja nicht …«, begann Chinh. »Wir dachten, Sie seien nach Hause zurückgefahren. Ihr Zimmer ist nicht für Ihre Ankunft vorbereitet. Ihr armer Vater …«
»Kann ich hier nicht schlafen?«, fragte Nina mit einem Hauch Angst in der Stimme.
»O doch, doch, natürlich. Sie sind ja hier zu Hause. Wir werden gleich Ihr Bett beziehen.«
Die beiden wichen vor der offenen Tür zurück und Hung zeigte Nina den Eingang.
»Chinh wird Ihnen eine Limonade bringen. Sie müssen Durst haben.«
Nina hörte schon nicht mehr zu. Ihr Herz klopfte zu stark, als sie Hungs Handbewegung folgte, um in das Haus hineinzugehen.
Als sie eintrat, bemerkte sie das Holzschild, das an die Tür genagelt war:
Villa Henriette
. Henriette war der Vorname ihrer Mutter. Sie streichelte das Holz und trat über die Schwelle.
Niemand war in dem Haus gewesen, seit ihr armer Vater … Die Luft, die man atmete, war die Luft, die er geatmet hatte. Nina legte ihre Hand auf die Wand des Flurs, um nicht zu zittern, und ging Schritt für Schritt voran. Der Anstrich war neu, die Fliesen glänzten.
An der Wand hingen eingerahmte Fotografien – Fotografien, die Paul d’Armand gemacht hatte. Sie erkannte die Landschaft der Pyrenäen wieder: verschiedene Gebirge, der Cirque de Gavarnie, der Pic du Midi, die Grotte von Lourdes … Andere Fotos waren hier gemacht worden. Auf ihnen waren Tempelruinen zu sehen, Dschunken und andere Schiffe.
Nina ging schnell vorbei, sie spürte Hungs Blick in ihrem Rücken. Eine Tür auf der rechten Seite führte in einen kleinen Salon, der mit Korbstühlen und einem Tisch möbliert war. Nina wollte gerade dem Salon gegenüber eine weitere Tür öffnen, als Hung dazwischenkam.
»Das ist das Zimmer Ihres Vaters. Ihres ist hinten.«
Nina schloss die Tür wieder zu. Sie wollte nicht in die Räume ihres Vaters eindringen. Noch nicht. Sie ging bis an das Endes des Flurs. »Hier ist Ihr Koffer!«
Nina drehte sich um. Zwei Männer kamen und brachten ihr Gepäck. Sie wich zur Seite, um sie vorbeizulassen. Hung sagte etwas auf Annamitisch zu ihnen und sie gingen auf das hintere Zimmer zu, das Hung für sie öffnete. Einen Augenblick später waren die Träger wieder fort.
»Ruhen Sie sich aus, Mademoiselle«, sagte Hung von der Türschwelle aus zu ihr. »Chinh wird Ihnen die Limonade bringen. Für das Abendessen geben Sie ihr ein bisschen Geld, sie wird Ihnen davon etwas kaufen und Sie mit einem guten Essen bewirten.«
Doch Nina hörte schon nicht mehr zu. Erschöpft hatte sie sich auf den Überseekoffer gesetzt, um ihr neues Zimmer zu betrachten.
Ich bin keine Bedienstete!
Es war ein Traum von einem Zimmer, das ihr Vater für sie hergerichtet hatte.
Aber ein Kindertraum.
›Mein Vater hat nicht miterlebt, wie
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