Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Geld, um Bücher zu kaufen.«
»Bücher?«
»Für das Collège. Das war mein Traum.«
Nina verkniff sich eine Grimasse. Ihr fiel es schwer, zu begreifen, dass es ein Traum sein konnte, auf das Collège zu gehen, auch wenn die Erwachsenen davon überzeugt waren. Also musste sie davon ebenso überzeugt erscheinen.
»Ich verstehe«, sagte sie bestimmt. »Ein schöner Traum, der es wert ist, verwirklicht zu werden.«
»So denkt man in Frankreich, sagte mir Ihr Vater. Aber hier in Annam glaubt man, dass die Mädchen nicht zur Schule gehen müssen. Vor allem nicht die Töchter von Köchen. Man braucht Geld, um die Bücher und ein
áo dài
zu kaufen.«
»Ein
áo dài
?«
Tam zeigte mit beiden Händen auf ihre hübsche weiße Tunika mit den Schlitzen auf beiden Seiten.
»Das bedeutet ›langes Oberteil‹, so nennt man diese Kleidung. Um auf das Collège zu gehen, muss man gut gekleidet sein. Nicht wie ein Mädchen vom Land.«
›Das ist merkwürdig‹, dachte Nina. ›Sobald ich im Collège bin, denke ich nur daran, mich schmutzig zu machen.‹ Aber es kam natürlich nicht infrage, Tam ihre Gedanken mitzuteilen. So begnügte sie sich damit zu nicken, während Tam fortfuhr.
»Zum Glück hat Ihr Vater meinen Eltern erklärt, dass ich dazu fähig sei. Er hat zuerst mit dem Direktor der École Jeanne-d’Arc gesprochen, dann mit dem des öffentlichen Collège, das gerade im französischen Viertel eröffnet wurde. Und nun bin ich eine Schülerin des Collège.«
Dieses Mal gab Nina acht, nicht aus ihrer Rolle zu fallen, und lächelte zustimmend.
Doch plötzlich senkte Tam den Kopf und nahm wieder ihren ernsten Gesichtsausdruck an.
»Ich habe so sehr darauf gewartet, dass er zurückkommt. Ich wollte ihm mein letztes Zeugnis zeigen. Aber er ist nicht zurückgekommen.«
Nina senkte ihrerseits den Kopf. In diesem Punkt verstanden sie sich wenigstens.
»Was ist passiert?«, fragte Nina nach einem Moment der Stille, und diese Mal musste sie sich nicht verstellen, um wie eine Erwachsene auszusehen.
»Ich weiß es nicht genau. Professor Morton hat uns nichts erzählt. Man gibt sich nicht die Mühe, dem
bêp
solche Dinge zu erklären. Aber ich habe meinen Mathematiklehrer gefragt. Er hat mir gesagt, dass Monsieur d’Armand in eine Schlucht gefallen sei und man seinen Körper nicht gefunden habe. Er war mit Professor Morton auf einer archäologischen Expedition in das hochgelegene Mekong unterwegs.«
»Was für ein Professor ist denn dieser Morton?«
»Er ist Archäologe. Er wurde von der französischen Regierung beauftragt, die Region von Hué zu erforschen. Er beschäftigte Ihren Vater oft als Fotografen, um die Sehenswürdigkeiten zu fotografieren. Manchmal nahm er ihn auch zu Expeditionen mit, um in anderen Regionen nach Ruinen zu forschen. Er brauchte immer einen guten Fotografen.«
Ninas Gesicht hellte sich auf.
»Mein Vater ist ein guter Fotograf, nicht wahr?«
»Alle in Hué sagen das. Die Franzosen wie die Annamiten. Die Minister riefen ihn oft, um Porträts zu machen. Und irgendwann verdiente er so viel Geld, dass er dieses Haus von der Familie Teng kaufen konnte.«
Geld!
Nina spürte einen Stich in der Brust. Genau das war ihr Problem. Hung hatte ihr gesagt, um das Abendessen zuzubereiten, solle sie seiner Frau Geld geben. Sie warf einen Blick in ihre Handtasche. Es waren nur noch wenige Piaster übrig, sie wusste nicht einmal wie viele, geschweige denn, wie viel sie wert waren.
»Und was hat er mit dem getan, was übrig blieb?«
»Übrig von was?«
»Von seinem Geld.«
Dieses Mal nahm Nina weder Wut noch Kummer im Blick der jungen Annamitin wahr. Stattdessen war da etwas wie ein kurzes Flackern in ihren Augen; schnell senkte sie den Blick zu Boden. Doch Nina hätte schwören können: Tam hatte Angst.
»Ich weiß es nicht.« Stille, dann fasste sie sich wieder. »Ihr Vater war kein reicher Mann. Er hat all sein Geld in dieses Haus gesteckt. Ich weiß es, denn er hat es meinem Vater gesagt. Er hat ihm erklärt, dass er nicht die Mittel hätte, einen Jungen anzustellen, um ihm in der Küche zu helfen.«
Tam unterbrach sich und kam auf das Thema zurück, das Nina Sorgen machte.
»Es gibt viele reiche Franzosen hier, aber Ihr Vater war kein reicher Mann. Er hatte nur ein Ehepaar als Bedienstete, das ist sehr wenig. Die meisten Franzosen haben mindestens fünf oder sechs, den
bêp
, einen Mann für die Rikscha, Hausmädchen für die Kinder. Einige haben zehn. Und ihre Häuser sind so groß wie das der
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