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Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)

Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christel Mouchard
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ich älter geworden bin‹, sagte sich Nina, um zu erklären, wie aus einem Mädchen von fünfzehn Jahren eine einundzwanzigjährige Frau werden konnte. Es stimmte tatsächlich: Ihr Vater hatte sie nicht aufwachsen sehen. Das Zimmer vor ihren Augen hätte für ein Mädchen von zehn Jahren gepasst!
    Die Bettdecke war rosa und mit Teddybären bestickt, die Vorhänge passend darauf abgestimmt. Von der Decke hing ein langes weißes Moskitonetz wie ein Brautschleier herab. Ein lächerlich niedriger Sessel war mit neuen Puppen beladen, auf dem Nachttisch lagen das Buch
Les Petites Fille modèles
von der Gräfin von Ségur und eine kleine Madonna aus Gips, die der, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, wie eine Schwester glich.
    Dieses Mal brauchte sie sich nicht zusammenzureißen, niemand beobachtete sie. In diesem Zimmer, das ihr Vater für sie vorbereitet hatte, lag zu viel Zärtlichkeit, zu viel Liebe. Der Kummer legte sich auf ihre Schultern wie eine schwere Decke, und Nina brach ohne Hemmungen zum ersten Mal, seit sie die Nachricht von Professor Morton erhalten hatte, in Schluchzen aus.
    »Mademoiselle?«
    Nina sprang auf und wischte sich die Wangen mit den bestickten Ärmeln ihrer Bluse ab. Ein grauer Streifen erschien auf dem weißen Baumwollstoff. Nina verbarg den Arm hinter ihrem Rücken. Hungs Tochter Tam kam den Flur entlang. Sie trug ein Tablett mit einem Glas, Früchten, und Sesamnougat.
    »Mein Vater hat mich gebeten, Ihnen das zu bringen. Wollen Sie hier oder im Salon essen?«
    »Hier ist es sehr gut«, antwortete Nina und bemühte sich, wieder Sicherheit zu gewinnen. »Danke, Tam.«
    Das Mädchen stellte das Tablett auf einer Kiste unter dem Fenster ab und blieb steif mitten im Zimmer stehen.
    »Mademoiselle«, sagte sie zögernd, »wenn Sie erlauben … ich möchte klarstellen … ich bin keine Bedienstete.«
    »Ach so? Aber du bist doch die Tochter des
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    Dieses Mal war der wütende Blick des Mädchens deutlich wahrnehmbar. Sie sprach sehr selbstbewusst und sah Nina direkt in die Augen.
    »Ich bin keine Bedienstete. Mein Vater ist Bediensteter. Meine Mutter ist Bedienstete. Ich nicht, ich besuche das Collège.«
    »Es gibt hier ein Collège? Hölle und Verwesung!«
    Nina biss sich auf die Lippen. Nicht nur war ihr ihr Lieblingsfluch herausgerutscht, sie hatte auch vergessen, dass sie mit einundzwanzig nicht mehr Gefahr lief, aufs Collège geschickt zu werden. Tam schaute sie verwundert an.
    »Aha. Und was lernst du auf dem Collège?«
    »Französisch, Geschichte, Mathematik …« Das Lächeln der jungen Annamitin ließ ihr Gesicht erstrahlen. »Heute Morgen haben wir mit den Gleichungen angefangen, das war wunderbar!«
    Nina fröstelte vor Grauen.
Gleichungen wunderbar?
Sie, die sogar Divisionen schrecklich fand, konnte eine abwehrende Reaktion nicht unterdrücken.
    »Wozu brauchst du denn hier Gleichungen?«
    Tams Gesicht nahm wieder den wütenden Ausdruck an. Sie neigte wortlos den Kopf und wich in den Flur zurück.
    Mit einer beschwichtigenden Handbewegung versuchte Nina, sie zum Bleiben zu bewegen. Sie wollte nicht, dass sie fortging. Sie konnte es nicht zugeben, doch sie fürchtete sich davor, in dem Haus allein zu sein.
    »Bleib! Nein, entschuldige, ich wollte dich um etwas bitten.«
    »Ich werde meine Mutter holen. Sie wird Sie bedienen.«
    »Nein, nein, es geht nicht darum, bedient zu werden. Ich wollte wissen …«
    Schnell, sie musste eine Frage finden, die ernst genug war, um Tam aufzuhalten, ohne schwach zu wirken.
    »Weißt du … weißt du, wie mein Vater gestorben ist?«
    Nina hatte nicht nachgedacht, bevor sie diese Worte aussprach. Sie waren ihr ganz von allein gekommen. Aber als sie sie sagte, wurde ihr bewusst, dass diese Frage schon an ihr genagt hatte, seit sie die Botschaft von Professor Morton erhalten hatte. Und genau das musste sie sagen, damit Tam nicht wegging.
    Der wütende Gesichtsausdruck wich sofort einer tiefen Traurigkeit.
    »Ich habe großen Kummer«, sagte sie und kam wieder zurück.
    »Ich mochte Ihren Vater sehr gern. Er war der Einzige, der verstand, was ich sagte.«
    »Wieso? Du sprichst doch sehr gut Französisch!«
    Tam zog wieder vor Verwunderung die Augenbrauen hoch. Noch eine Dummheit, dachte Nina.
    »Ich meine, er war der Einzige, der meine Träume verstand.«
    »Ja, ja natürlich! Ich habe Spaß gemacht.«
    Tam überging, dass sie den Scherz für unangebracht hielt.
    »Ihr Vater hat mich immer ermutigt. Er sprach mit meinen Eltern, er gab ihnen sogar

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