Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Familie Teng.«
Nina kniff die Augen zusammen, während Tam ihre Erklärungen herunterbetete. Warum war sie plötzlich so gesprächig?
»Er besaß also nichts anderes als dieses Haus? Weder ein Landgut noch Geld?«
»Kein Landgut, nein, nur den Gemüsegarten, in dem mein Vater Gemüse anbaut.« Sie zögerte und sprach dann betreten weiter.
»Aber vielleicht ist im Haus ja noch etwas, ich weiß es nicht.«
Mit einer zaghaften Handbewegung zeigte sie auf den Flur.
»Ich muss jetzt gehen, ich habe für morgen Hausaufgaben zu machen.«
»Ja, natürlich. Geh ruhig. Es ist sehr wichtig, regelmäßig die Hausaufgaben zu machen.«
Nina beendete ihren Satz mit einer kleinen Bewegung der Fingerspitzen in Richtung Tür, wie es ihre Tante getan hatte, um die Lieferanten fortzuschicken. Tam kniff die Lippen zusammen, dann verschwand sie wortlos in den Flur.
Irgendwo muss es doch sein!
Endlich war Nina allein in ihrem Zimmer. Jetzt fürchtete sie die Einsamkeit nicht mehr – sie hatte etwas zu tun. Etwas Wichtiges. Sie musste Geld finden. Tam hatte recht: Wenn ihr Vater Geld hatte, müsste sich im Haus eine Spur finden lassen, und wären es nur ein Bankkonto oder Aktien.
Sie ging in den Salon und begann, dort herumzustöbern. Sie öffnete das Büffet und räumte einige Schalen und Gläser zur Seite. Sie waren nicht einmal aus Kristall. Dann öffnete sie verschiedene Schubladen und sah unter dem Besteck nach. Als Nächstes nahm sie sich die Bibliothek vor und blätterte die Bücher durch, auf der Suche nach Papieren, die dort eventuell hineingelegt worden waren. Es gab Bücher über Indochina, seine Geografie, die Geschichte der Eroberung durch die Franzosen und Handbücher zur Fotografie mit Entwürfen und verschiedenen Verfahrenstechniken – sonst fand sie nichts.
Ohne große Hoffnung hob Nina den Teppich an, entdeckte nichts, richtete sich wieder auf und stand nun mitten im Raum. Es blieb nur noch ein Zimmer: das Zimmer ihres Vaters.
Nina zögerte. Es war ihr, als wäre das Betreten seines Zimmers gleichbedeutend damit, das zu akeptieren, was sie nicht akzeptieren wollte: dass ihr Vater nicht mehr zurückkommen würde. Dennoch musste sie es tun. Sie musste Geld finden, wenn sie allein in Hué überleben wollte. Sie durchschritt den Flur und drückte mit klopfendem Herzen die Klinke hinunter.
An den Fenstern hingen Moskitonetze und das ganze Zimmer war in ein sanftes Licht getaucht. Die Wände waren neu gestrichen, die Fliesen aus Backstein und in der Luft hing ein Harzgeruch. Auf dem Bett lag ein einfaches Laken, am Fußende ein grün-braun gestreifter Vorleger und ein Stapel Bücher, von dem das obere aufgeschlagen war. An der Wand über dem Bett hing ein gerahmtes Foto.
Nina kannte es. Ihre Mutter und ihr Vater waren darauf zu sehen, zur Zeit ihrer Verlobung. Sie beugte sich vor, als würde sie das Bild zum ersten Mal anschauen.
»Na so was, man könnte meinen, das wäre ich!«
Und tatsächlich, das waren dieselben hellen, schelmischen Augen, dieselbe hohe Gestalt eines zu schnell gewachsenen Kindes, dieselbe lockere Haarmähne. Seit Nina sich als Frau verkleidet hatte, war die Ähnlichkeit frappierend: Die Mode war zwar eine andere geworden, aber die Gestalt war dieselbe, nur würdiger, die Schultern waren unbedeckt, das Lächeln aufrichtig. Nina seufzte. Niemals würde sie diesen Stil haben.
Auf einem anderen Foto war sie als kleines Kind zu sehen. Sie stand mit den Füßen im Wasser und hielt die Hand ihrer Mutter, die in einem Badeanzug neben ihr stand – ein Oberteil und eine lange Pluderhose, unter der nur die Knöchel zu sehen waren. Hinter ihnen standen in einer Reihe die Kabinen des Strands von Biarritz. Es gab noch weitere Fotos von Nina als Baby, dann noch eines als kleines Mädchen. Der Rand des Rahmens aus Mahagoni war mit einem Staubfilm bedeckt, ansonsten war das Zimmer aufgeräumt. Gewiss hatte Tams Mutter für Ordnung gesorgt, denn Paul d’Armand hatte die Neigung, seine Sachen herumliegen zu lassen. Nina hörte die Worte ihrer Mutter: »Nina, du bist genauso unordentlich wie dein Vater!«
Man spürte, dass das Haus gerade erst bezogen worden war und ihr Vater nicht die Zeit gehabt hatte, sich richtig einzurichten. Er wartete auf etwas, damit es sein echtes Zuhause würde; er wartete auf die Ankunft seiner Tochter. Nina schluckte, atmete tief ein und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Es gab nicht viel zu durchstöbern, nur einen lackierten Schrank in chinesischem Stil mit
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