Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
sagte sie und schloss dabei die Augen. »Lass mich raten: ein Löwe?«
»In Asien gibt es keine Löwen. Es ist Herr Tiger.«
»
Herr?
Muss man sich vor ihm verneigen?«
»So nennen ihn die Bauern in den Bergen. Aber wenn sie ihn sehen, kommt es nicht oft vor, dass sie Zeit haben, sich vor ihm zu verneigen.«
»Und da die Fischer keinen Wert auf eine solche Begegnung legen, sind sie geflüchtet.«
»Ich befürchte es.«
Tam richtete ihren Blick in die Ferne auf den von einer glatten, jetzt reglosen Schlammschicht bedeckten Weg, dann auf den in purpurnen Spiegelungen entflammten Fluss, dann auf den Wald. Bei dem leisesten Rascheln des kleinsten Blattes erwartete sie, ein wütendes Raubtier mit seinen spitzen Fangzähnen hervorspringen zu sehen.
Und in ihrer Erinnerung tauchten all die Geschichten auf, die man ihr von Kindern erzählt hatte, die von Tigern aus ihren Häusern gezerrt worden waren. Ihr fiel auch ein, dass im letzten Jahr in einer Stadt im Süden ein Franzose auf die Jagd gegangen und angegriffen worden war. Seinen Kadaver hatte man am nächsten Morgen halb aufgefressen wiedergefunden. Ein scheppernder Ton hallte in Tams Kopf wieder. Sie brauchte ein wenig Zeit, ehe sie sich bewusst wurde, dass sie mit den Zähnen klapperte.
»Man sagt, die Wasserschlangen seien gar nicht gefährlich«, stieß sie tapfer hervor, in der Hoffnung, dass Nina das Klappern nicht bemerkte.
Nina jedoch schien sich der Gefahr, in der sie sich befanden, gar nicht bewusst zu sein. Und woher auch, sie war ja nicht mit den Geschichten vom furchteinflößenden Tiger aufgewachsen.
»Fassen wir zusammen …«, brummte sie. »Wir sind zwischen einem Schlammmonster, Wasserschlangen und dem mächtigen Tiger eingeschlossen, ist es so?«
Tam nickte wortlos. Nina hob die Augen zum Himmel und summte eine Melodie, die Sorglosigkeit vortäuschen sollte.
»Kleine Mutter, jetzt ist der Moment gekommen, mir zu Hilfe zu kommen!«
Sie hatte die Worte ausgesprochen, um sich Mut zu machen, ohne jede Hoffnung, gehört zu werden, doch Tam stimmte flüsternd voller Eifer und Überzeugung ein:
»Kwan Yin, Göttin des Mitgefühls, erhöre unser Gebet.«
War es die Göttin Kwan Yin, die den beiden Mädchen in diesem Augenblick zu Hilfe kam? Wenn das der Fall war, hatte sie eine unerwartete Gestalt angenommen.
Denn plötzlich zog eine Bewegung auf dem Wasser Tams und Ninas Aufmerksamkeit auf sich. Zuerst konnten sie es kaum fassen, dann jedoch sahen sie, dass am Ufer langsam ein Boot in ihr Sichtfeld kam. Bis dahin war es von den Bäumen der Böschung verborgen gewesen, jetzt steuerte es auf die Anlegestelle zu. Es sah aus wie ein übergroßes Insekt mit gespreizten Flügeln, das auf dem Wasser dahinglitt. Wie um diesen Eindruck noch zu unterstützen, war der Bug mit einem schwarz unterstrichenen Auge bemalt.
»Eine Dschunke!«, rief Tam aus.
Ohne sich zu fragen, woher sie kam, rannten die beiden Mädchen auf die Anlegestelle zu.
Es war ein zauberhafter Anblick, dieses prächtige Boot mit seinen hohen roten Segeln. Es hatte eine schlanke Form, der Schiffskörper war mit flammenden Farben verziert und ein Schutzdach im hinteren Teil war mit einem leichten Stoff bespannt, der durch die Brise sanft bewegt wurde. Nina erwartete, dass im nächsten Augenblick ein Prinz in einem weißen Gewand an Deck auftauchen würde.
Und genau das geschah auch.
Nur dass dieser Prinz wütend war.
»Was um aller Welt treibt ihr denn hier?«, donnerte Wenji und sprang auf den Landesteg.
Nina schloss vor Glück die Augen und murmelte: »Danke, kleine Mutter!«
»Es ist nicht der Zeitpunkt, Euer Gebet zu sprechen«, fuhr Wenji noch immer wütend fort. »Ihr befindet euch mitten in einer Tigerjagd!«
»Einer Jagd?«, fragte Nina und sah sich um. »Aber es ist niemand zu sehen.«
»Weil die Jäger im Hinterhalt liegen. Wenn ihr in dieser Richtung ein wenig weitergegangen wäret, hättet ihr gute Chancen gehabt, in Stücke gerissen zu werden.«
»Und das Gebrüll?«, fragte Tam. »Was war das?«
»Die Jäger haben einen Köder gelegt. Wahrscheinlich haben sie ein Kalb an einen Baum gebunden. Der Tiger muss es angegriffen haben. Die Männer werden gleich schießen.«
»Ein lebendiger Köder?«, rief Nina aus. Sie ging einen Schritt auf den Wald zu, als wollte sie das unglückliche Opfer befreien. »Aber das darf man nicht zulassen, das ist furchtbar!«
»Es ist ein Sakrileg«, verbesserte Tam in ernstem Ton, während sie an Bord der Dschunke kletterte. »Der
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