Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Sitzplätzen kam im Schritttempo des Pferdes voran, langsam genug, um die Hecken und Veranden zu untersuchen. Doch keinerlei Spur von Nina.
»Sie ist zu allem in der Lage«, bemerkte Tam und wurde immer besorgter. »Sie hat eine panische Angst vor dem Waisenhaus.«
Wenji selbst hielt die Zügel seines Pferdes und führte die Kalesche langsam durch die Straßen.
»Warum habt ihr beide mir nichts gesagt?«
Tam antwortete nicht. Sie wollte ihm nicht auch noch eingestehen, dass sie ihn dunkler Absichten verdächtigt hatten. Im Übrigen, wer konnte sagen, warum er sich so sehr für Nina interessierte? Waren es ihre blauen Augen? Oder doch eher die grünen Augen der Madonna aus Jade?
Wenji hatte wieder den ihm so eigenen amüsierten Gesichtsausdruck und sprach weiter:
»Auf jeden Fall habe ich es erraten. Nina hat sehr viel Charme, das ist wahr. Aber man muss schon ziemlich naiv sein, um zu glauben, dass sie einundzwanzig Jahre alt ist.«
»Die Mortons und die Leute im Palast haben es immerhin geglaubt«, ärgerte sich Tam.
Sie konnte nicht umhin, sich schuldig zu fühlen. Und jetzt warf sie sich vor, sich auf Ninas Spiel eingelassen zu haben und sie glauben zu lassen, sie könne sich als junge Frau ausgeben.
Wenji lachte hell auf.
»Ja, aber die Mortons haben keine zwei jüngeren Schwestern, so wie ich! Ich weiß, was eine Jugendliche ist.«
Tam zuckte mit den Schultern. Wenjis Gespött gefiel ihr nicht, aber im Moment war sie von ihm abhängig. Allein würde es ihr nicht gelingen, Nina wiederzufinden, und sie wusste nicht, wie sie sie vor ihrer Tante und den Mortons schützen sollte. Sie brauchte die Hilfe des jungen Chinesen.
Aber wo sollten sie jetzt noch suchen? Nina kannte niemanden in Hué. Um die Nacht nicht unter freiem Himmel verbringen zu müssen, könnte sie nur bei der Königin Phuong Hilfe suchen.
»Vielleicht müssen wir auf der Seite der Zitadelle suchen«, traute sich Tam zu sagen.
»Daran habe ich auch schon gedacht, doch die Wachen würden dieses Mädchen mit seinem beschmutzten Kleid und den aufgelösten Haaren niemals hereinlassen.«
»Ach ja? Haben Sie daran gedacht?«, wunderte sich Tam.
»Nina ist der Königin freundschaftlich verbunden, nicht wahr?«
»Wissen Sie das auch?«, wunderte sich Tam und wurde immer vorsichtiger.
»Ja. Und wenn ich das weiß, dann deshalb, weil ich euch beide ständig beobachte.«
Er ließ Tam ein bisschen Zeit, die Neuigkeit zu verdauen. Dann erklärte er bereitwillig:
»Ich bin sicher, dass du und Nina erraten habt, warum. Sonst wärst du mir gegenüber nicht so misstrauisch.«
»Ich hätte es lieber, wenn Sie mir die Dinge klar sagen.«
»Einverstanden.«
Er ließ die Kalesche umdrehen. Zu dieser Nachtzeit legte sich ein feiner Tau auf die Stadt, und Tam begann, in ihrem
áo dài
zu frieren.
»Kehren wir nach Hause zurück, um uns aufzuwärmen«, schloss Wenji. »Und ich werde es dir erzählen.«
Ein wenig später saßen sie nebeneinander vor einer heißen Reisnudelsuppe, die nach Koriander duftete. Es war das erste Mal, dass Tam das erhabene Haus der Tengs betrat. Während sie die Mahlzeit genoss, konnte sie nicht umhin, flüchtige Blicke auf die lackierten Möbel und die mit feinem Porzellan gefüllten Vitrinen zu werfen. Als sie fertig waren, holte Wenji eine Bonbonniere mit kandiertem Ingwer, öffnete sie und begann seine Erzählung.
»Kurz bevor Paul d’Armand auf Expedition ging, hat er meinem Vater angeboten, einer Person, deren Name geheim bleiben sollte, eine wertvolle Jadefigur abzukaufen. Wir hatten schon einige Kunstwerke von ihm gekauft, aber nicht von solchem Wert. Ich war gegen dieses Vorhaben, doch mein Vater willigte ein. Er hat eine solche Leidenschaft für Antiquitäten, dass er unfähig ist, ein Angebot abzulehnen, und sei es noch so suspekt.«
»Sie haben also die geforderte Summe bezahlt, doch Monsieur d’Armand hat die Figur nicht geliefert.«
»Es war nicht sein Fehler. Mein Vater und ich mussten wegen eines anderen Geschäfts dringend nach Saigon abreisen. Als wir zurückkamen, war er auf Expedition gegangen, hatte uns aber eine Nachricht hinterlassen, die besagte, dass sich die Jadefigur an einem sicheren Ort befände und dass er sie uns unmittelbar nach seiner Rückkehr übergeben würde.«
»Aber er ist nie zurückgekehrt.«
»Und ich wusste nicht, aus wessen Besitz die Figur stammte.«
»Warum haben Sie so ein Riesengeheimnis daraus gemacht? Warum haben Sie das alles nicht Nina gesagt?«
»Weil der Verkauf
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