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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Straßenrand stand eine Gestalt – ganz in Weiß, dünn und lang, und gab gruslige hohe Laute von sich. So musste der böse Zauberer Babai aussehen, mit dem die Mutter ihn früher geängstigt hatte: Er packt den ungezogenen Buben am Schopf, steckt ihn in den Sack, und ab zu den Teufeln auf die Waldwiese.
    Blinow hielt die Zügel kurz und beruhigte das Pferd durch Brr-Rufe.
    »Wladimir Iwanowitsch, Sie? Kommen Sie aus Olchowka?«
    Da bewegte sich die Gestalt und stieß keine traurigen Töne mehr aus. Es war nicht Babai, sondern ein hochgewachsener, dürrer Bauer in weißem Hemd, das er über der Samthose trug, mit Bastschuhenan den Füßen. Das Mondlicht fiel auf ihn, und Tulpow sah ein bärtiges Gesicht mit eingefallenen Wangen und dunklen Augenhöhlen; in den Händen hielt er eine Rohrpfeife.
    »Guten Abend, Anton Maximilianowitsch«, sagte der Mann mit weicher, angenehmer Stimme und verbeugte sich leicht vor Tulpow, aber nicht auf volkstümliche Weise, sondern durchaus salonfähig. »Sie haben es erraten. Ich war in Olchowka bei den alten Frauen und habe mir hiesige Märcheneinleitungen aufgeschrieben. Die Hirtenflöte habe ich erworben. Ein erstaunliches Timbre, finden Sie nicht?«
    »Ja, widerlich«, stimmte der Vorsitzende zu. »Darf ich vorstellen, Anissi Pitirimowitsch: Wladimir Iwanowitsch Petrow, ein waschechter Russe und Kenner des mündlichen Volksschaffens. Außer Folklore und Bauernhandwerk interessiert ihn nichts auf der Welt. Er ist aus Petersburg zu uns gekommen und logiert in Baskakowka. Gut, dass wir ihn getroffen haben, er wird Sie hinbringen. Und das ist Herr Tulpow, Beamter in der Kanzlei des Generalgouverneurs. Er wurde hergeschickt, um in der Ihnen bekannten Geschichte zu ermitteln.«
    Alle, wirklich alle, selbst dieser Flötenspieler, wussten von der Geschichte!
    Sie verabschiedeten sich gleich hier von Blinow, und der Petersburger Gelehrte führte Tulpow eine Abkürzung durchs Gebüsch. Im Unterschied zu dem gesprächigen Vorsitzenden war der Ethnograph schweigsam und drehte sich nicht nach seinem Weggefährten um, entlockte nur hin und wieder seiner Rohrpfeife wehmütige und, wie es Tulpow vorkam, feindselige Triller.
    Der Sekretär wartete, ob sich auf natürlichem Wege eine Unterhaltung entspann: über die Einheimischen oder wenigstens über die Pachrinsker Folklore, egal worüber, Hauptsache, sie kamen ins Gespräch. Er wartete vergebens. Also musste er die Initiative ergreifen.
    »Sie als Spezialist für Legenden bekommen bestimmt merkwürdige Geschichten zu hören, die noch verrückter sind als die von Herrn Blinow erwähnte«, schnitt Tulpow nicht ganz geschickt das ihn interessierende Thema an.
    »Eine verrücktere gibt es wohl kaum«, murmelte Petrow, verstummte aber nach diesem vielversprechenden Anfang gleich wieder.
    Da beschloss Tulpow, aufs Ganze zu gehen, um ein für alle Mal mit dem Versteckspielen Schluss zu machen.
    »Ich stelle fest, Wladimir Iwanowitsch, dass Sie mit mir nicht über die Ereignisse in Baskakowka sprechen wollen. Warum nicht? Haben Sie dafür besondere Gründe?«
    Eine hervorragende Methode, die Zunge eines Schweigenden zu lösen: ihn in einem plötzlichen Angriff überrumpeln und nötigen, sich zu rechtfertigen. Diesen psychologischen Trick hatte Tulpow seinerzeit von dem superklugen Fandorin gelernt.
    Das Manöver funktionierte ausgezeichnet, noch besser, als Tulpow gehofft hatte. Petrow zog den Kopf ein, drehte sich um und breitete die knochigen Arme aus.
    »Ich habe mir das mit der Skarpea doch nicht ausgedacht. Ich habe die alte Legende nur erzählt, weil ich Frau Baskakowa zerstreuen wollte … Wer konnte denn ahnen, dass es so eine Wendung nehmen würde.«
    Tulpow begriff zwar noch nichts, aber sein Gefühl sagte ihm: heiß.
    »Der Reihe nach«, befahl er streng. »Überspringen Sie nichts. Wann war das?«
    »Vielleicht eine Woche vor … na ja, davor«, stammelte Petrow, der nicht das passende Wort fand. »Ausgerechnet am Namenstag der Hausherrin. Mit der Ikone fing alles an. Dort im Salon hängt eine Ikone des heiligen Pankrati, eine alte Ikone noch aus Peters Zeiten. Pankrati ist der Stammvater der Baskakows, er hat vor fastfünfhundert Jahren gelebt. Auf der Ikone, seitlich von Pankrati, ist eine Schlange abgebildet, eine große Schlange mit einer strahlenden Krone. Es ist wirklich erstaunlich, wie wenig sich unsere russischen Aristokraten für die Geschichte ihres Geschlechts interessieren!«, ereiferte sich der Gelehrte. »Jede Bäuerin aus

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