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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Ihre Wahrnehmung beeinflussen. Die Geschichte ist so absurd und phantastisch, dass ich selbst hinfahren würde, wenn ich mich nicht um den allerhöchsten Besuch kümmern müsste.«
    Bevor Tulpow nach Hause ging, um sich auf die Reise vorzubereiten, sah er in der Enzyklopädie das unverständliche Wort nach. »Anakonda« war eine Riesenschlange aus den Amazonas-Sümpfen. Was hatte ihm der Chef damit sagen wollen? Er hatte nur die Neugier angefacht, der gefühllose Mensch.
     
    Den ganzen Tag wurde Tulpow in der Droschke auf schlechten Straßen durchgeschüttelt – zuerst auf der Gouvernementstraße, die noch irgendwie gepflastert war, dann auf der unbefestigten Landstraße und die letzten elf Werst auf einem Feldweg voller Pfützen und Schlaglöcher. Er war morgens in der fünften Stunde aufgebrochen, noch im Dunkeln, und gelangte erst gegen Abend nach Pachrinsk.
    Ohne etwas vom Wesen des Problems zu wissen, war Tulpowentschlossen, sich in dem Konflikt zwischen den Pachrinsker Kontrahenten auf die Seite des Fortschritts zu schlagen, und hatte der Semstwo-Verwaltung telegraphisch seinen Besuch angekündigt. Darum wurde der Moskauer Gast, obwohl die Dienstzeit schon zu Ende war, vom Vorsitzenden persönlich empfangen.
    »Herzlich willkommen, Herr Tulpow«, sagte er und klopfte dem hauptstädtischen Gast den grauen Reisestaub von der Schulter. »Nehmen Sie im Namen der fortschrittlichen Menschen, die es in unserem bescheidenem Landkreis gibt, wenn auch in geringer Anzahl, unsere aufrichtige Entschuldigung für die verursachten Beschwerlichkeiten entgegen. Unsere hausgemachten Torquemadas hetzen vom Altar aus. Bloß gut, dass der Fall Herrn Fandorin übertragen wurde, einem klugen und aufgeklärten Mann, und nicht irgendeinem Dunkelmann und Kleriker. Dieser verderbliche Aberglaube, der die Bevölkerung eines ganzen Amtsbezirks in den Abgrund des wüsten Mittelalters gerissen hat, muss entlarvt werden. Die finstersten, reaktionärsten Elemente haben ihren Kopf erhoben. Die Popen lachen sich ins Fäustchen, neuerdings finden jeden Tag Bittgebete und Kirchenprozessionen statt, unzählige Zauberer und Wahrsager sind plötzlich aufgetaucht. Es wird nur noch über die Sumpf-Skarpea geredet.«
    Über was, über was? hätte Tulpow beinahe gefragt, biss sich aber rechtzeitig auf die Zunge. Geduld – gleich erzählt er alles von selbst. Aber der Vorsitzende (er hieß Anton Maximilianowitsch Blinow) betrachtete zweifelnd den Sekretär, der nicht gerade eine Gardefigur und noch nicht einmal einen Schnurrbart hatte, und fügte hinzu: »Es ist natürlich schade, dass Herr Fandorin nicht selbst zu uns kommen konnte, aber macht nichts. Ein so außergewöhnlicher Mensch hat sicherlich auch einen besonderen Assistenten.«
    Letzteres war eindeutig nicht ernst gemeint, und Tulpow machte sofort ein mürrisches Gesicht. Sieh an, dachte er, Fandorin soll persönlichangebraust kommen. Der wird doch nicht wegen jedem Blödsinn die Krähwinkel abklappern. Zuviel der Ehre.
    Um nicht seine demütigende Unkenntnis zu offenbaren, entschloss sich Tulpow zu einem würdevollen Auftreten: Er stellte keine Fragen, gab keine Urteile ab, höchstens über das Wetter (trocken, aber nicht zu heiß), und beschränkte sich weitgehend auf Ausrufe.
    Gleich vor der Verwaltung bestiegen sie die abgewetzte Droschke des Vorsitzenden und fuhren aus Pachrinsk hinaus, erst über ein Feld, dann durch einen Wald, wieder über ein Feld und dann nur noch durch den Wald.
    »Anissi Pitirimowitsch, ich werde Sie am Tatarischen Knüppeldamm absetzen, von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Gut Baskakowka«, erklärte Blinow unterwegs. »Nehmen Sie es mir nicht übel. Aber zu Warwara Iljinitschna darf ich Sie nicht bringen, dort gelte ich neuerdings als persona non grata. Für die Erbin des Latifundiums bin ich ein lebendiger Vorwurf und eine ärgerliche Erinnerung an einstige Schöngeisterei.«
    Tulpow nickte mit wichtiger Miene, obwohl er zum ersten Mal von einer Erbin hörte und nicht recht wusste, was ein »Latifundium« ist. Sicherlich auch etwas Südamerikanisches.
    Blinow schwatzte ohne Unterlass, aber meist über Unwichtiges, das nicht zur Sache gehörte: über die Pachrinsker Gegend, über die Schönheit der hiesigen Natur, über die große Zukunft dieser hinfälligen Dörfchen, der geruhsamen Flüsschen und trostlosen Sümpfe. Nach Blinows tiefer Überzeugung würde die wunderbare Zukunft in allernächster Zeit in der Pachrinsker Einöde anbrechen –

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