Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
in Fandorin verwandelte – alles Irdische wird belanglos, wenn das Leben zu Ende geht und Tropfen um Tropfen versickert. Wie durch ein Wunder sind Sie jetzt hier, Erast Petrowitsch, ein besseres Abschiedsgeschenk kann man sich nicht wünschen.
»Leben Sie wohl, Chef …«, hauchte Tulpow mit der letzten Luft, die noch in seiner Lunge war.
Fandorin machte ein finsteres Gesicht.
»He, he, Tulpow! Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, wirklich d-davonzugehen. Schämen Sie sich, aus Angst zu sterben.«
Der Gouvernementsekretär blickte seinen geliebten Chef vorwurfsvoll an. Warum beleidigen Sie einen Sterbenden, Herr Fandorin? Das ist Sünde.
Vor Kränkung presste er noch ein Quäntchen Luft heraus:
»Gift … Höllenschmerzen …«
»Und ob das weh tut – bei den Zähnen.« Der Chef betrachtete nachdenklich seinen Handschuh, auf dem die Schlangenzähne unzählige Punkte zurückgelassen hatten. »Das S-Segeltuch hat sie nicht durchbissen, aber Ihren Glaceehandschuh – wie nichts. Das ist schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Die Schlange ist nicht giftig. Eine Amur-Boa, Tulpow. Aufgrund Ihres B-Berichts und der Aussagen von Angelina Krascheninnikowa – sie hat eine bessere Beobachtungsgabe als Sie – habe ich in der Lesestube des Amtsbezirks im zoologischen Atlas nachgeschlagen. Ein wunderbares Exemplar, nicht wahr, Herr Blinow?«
Der war bleich und schüttelte den Kopf, als wolle er eine Sinnestäuschung verscheuchen.
Tulpow zeigte schweigend – sprechen konnte er nicht mehr – auf seinen Adamsapfel: Und was ist mit der Atemlähmung?
Der Chef befahl: »Los, niesen Sie!«
Tulpow wunderte sich, aber er nieste. Und – Wunder über Wunder – er atmete etwas Luft ein. Dann mehr, noch mehr, und schließlich atmete er mit voller Brust.
»Wer sind Sie eigentlich, Herr Verkleidungskünstler?« Blinow hatte sich wieder gefasst. »Wer ist das, Anissi Pitirimowitsch? Und was sollen die lächerlichen Unterstellungen an meine Adresse?«
Fandorin drehte sich zu dem Semstwo-Vorsitzenden um.
»Ich bin Kollegienrat Fandorin. Und Sie haben, wie ich sehe, eine neue Reiseflasche?« Er zeigte auf das blanke Messingfläschchen, das an Blinows Gürtel hing. »Wo ist denn die alte? Ich wette, sie war mit Wildleder umkleidet und hatte einen wunderschönen s-silbernen V-Verschluss, den man auch als Gläschen benutzen konnte.«
Das sonderbare Wettangebot hatte eine erstaunliche Wirkung. Der Volksvertreter protestierte nicht länger, sondern wich zurück.
6
»Sagen Sie, Tulpow, haben Sie das P-Protokoll gelesen, das Sie mir vorgestern schickten? Darin beschreibt der Polizeichef den Tatort, an dem Krascheninnikow umkam.« Der Chef blickte seinen Assistenten tadelnd an.
»Nein, wozu denn? Ich habe ihm befohlen, sofort ein Protokoll mit Blaupause zu schreiben … Ich habe doch selber alles mit eigenen Augen gesehen und Ihnen in meinem Bericht geschildert.«
»Genau das ist der springende Punkt. Sie haben geschrieben, dass auf dem Tisch eine wildlederumkleidete Reiseflasche mit einem Gläschen stand, der Polizeichef hingegen hat keine Flasche bemerkt. Das bedeutet: Während Sie b-bewusstlos waren, ist das Behältnis auf geheimnisvolle Weise vom Tisch verschwunden. Die Schlange wird es doch nicht mitgenommen haben, oder?«
Tulpow klapperte mit den Augen und runzelte die weißlichen Brauen.
»Dort war aber niemand außer mir und der Tochter Krascheninnikows.«
»Darum habe ich anfangs das junge Mädchen verdächtigt. Gestern morgen sind Ihre Majestät mit Ihrer Suite endlich nach Petersburg abgereist, und ich bin sofort hergekommen. In Iljinskojehabe ich Angelina Krascheninnikowa ausfindig gemacht und eingehend befragt. Wenn sie gesagt hätte, sie habe keine Flasche gesehen, hätte das bedeutet, dass sie die V-Verbrecherin ist. Denn sie ist ja vor Ihnen wieder zu sich gekommen. Aber sie hat die Flasche gesehen und genau beschrieben, außerdem konnte sie sich erinnern, dass nach ihrer Ohnmacht die Flasche vom Tisch verschwunden war. Woraus folgt, dass sich ganz in der Nähe ein Dritter befand, der Sie aus der Dunkelheit beobachtete. Nachdem mir Angelina auch die Schlange detailliert beschrieben hatte, ermittelte ich, dass es sich um eine ungefährliche Boa handelt, und es wurde klar: Der Verwalter ist nicht an dem Biss gestorben. Das Gift befand sich höchstwahrscheinlich in der auf geheimnisvolle Weise verschwundenen F-Flasche. Ein Besucher, den der Verwalter in seiner Hütte empfing, spendierte ihm ein vergiftetes
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