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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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istnicht die Pest und nicht die Cholera, sondern eine Psychose, die ganze Bevölkerungsschichten ergreift. Denken Sie an den Kinderkreuzzug. Oder die mittelalterliche Hexenjagd. Und was ist Krieg, wenn nicht eine psychische Krankheit, die ganze Länder und sogar Kontinente erfasst? Denken Sie an die napoleonischen Feldzüge, während derer Hunderttausende, ja, Millionen Menschen ohne jeden triftigen Grund übereinander herfielen, einander die Kehle aufrissen, Städte niederbrannten und ganz Europa unter Leichenbergen begruben.«
    »Mich interessieren die Altgläubigen und die V-Volkszählung«, unterbrach Fandorin den historischen Exkurs höflich, aber entschieden.
    »Bitte sehr. Unter den Altgläubigen geistert schon seit über zwei Jahrhunderten die Idee vom baldigen Erscheinen des Antichristen herum. Diese Gruppe Menschen, das kann man so sagen, lebt ständig in der Erwartung des unausbleiblichen Endes der Welt. Das ist der Hintergrund der Erkrankung. Mit dem Antichristen assoziieren die Altgläubigen die Staatsgewalt, und das schon seit der Zeit des Patriarchen Nikon und des Zaren Peter. Das ist das Objekt der pathologischen Angst. Man weiß, dass auf Suggestion besonders Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und kaum entwickelter Individualität ansprechen. Das gilt für die meisten der hiesigen Waldbewohner: minimales Wissen über die Außenwelt plus maximale Abhängigkeit von der Bauerngemeinde. All das ist sozusagen die Zusammensetzung des Sprengstoffs. Um ihn zu entflammen, genügt eine Winzigkeit – ein glimmender Funke. Die Rolle dieses Funkens übernehmen immer wieder Propheten und Prediger, die über die außergewöhnliche Gabe der Suggestion verfügen. Ich habe speziell die Geschichte der Kirchenspaltung studiert. In diesem Milieu treten von Zeit zu Zeit Individuen auf, die verkünden, der Antichrist wäre schon im Anmarsch. Sogleich kommt es zu einer psychologischen Kettenreaktion: Hintergrund – Objekt – Beeinflussbarkeit, und die Menschenbegehen ungeheuerliche Taten. Ganze Familien stürzen sich ins Feuer, ertränken sich oder legen sich, wie hier, lebendig ins Grab. 1679 überredete der wahnsinnige Pope Dometian in der Nähe von Tobolsk 1700 Personen, sich zu verbrennen. Etliche Jahre danach jagte der Seher Semjon in der Gegend von Jaroslawl die Bevölkerung einer ganzen Stadt ins Feuer – viertausend Menschen. Zu einer letzten Selbstmordepidemie dieser Art kam es vor 36 Jahren im Gouvernement Olonez. Dort verbrannten sich fünfzehn Personen, unter ihnen Frauen und kleine Kinder. Die Ursache der Psychose war überall die gleiche – eschatologische Erwartungen.«
    »Verzeihung, was für Erwartungen?«
    Fandorin, der dem Vortrag gespannt lauschte, hatte gar nicht bemerkt, dass inzwischen auch die Übrigen herzugetreten waren und zuhörten: der wieder zu sich gekommene Kochanowski, Kryshow, Masa, der Geistliche samt Diakon und sogar Wachtmeister Odinzow. Er war es auch, der das unverständliche Wort erklärt haben wollte.
    »Das Ende der Welt«, erläuterte der Psychiater.
    Da redeten alle drauflos.
    »Herr Jesus, rette und bewahre deine Menschen«, rief Warnawa mit zitternder heller Stimme den Himmel an.
    Kochanowski war außer sich.
    »Liebwerter Herr, was Sie da voraussagen, ist ja entsetzlich!«
    Masa, der einen Fruchtbonbon lutschte, sagte auf japanisch: »Das Gleiche geschah in der Kanei-Ära, als Tokugawa Iyemitsu den Christen der Insel Kyushu befahl, sich von ihrem Glauben loszusagen.«
    Der Industrielle Jewpatjew erkundigte sich: »Wenn Sie an alles so wissenschaftlich, so medizinisch herangehen, dann haben Sie gewiss auch ein Rezept, wie die Seuche zu stoppen ist?«
    »Tja, da hat sich wohl ein Drache eingeschlichen, der das Volk aufwiegelt?« Odinzow zog drohend die hellen Brauen zusammen.
    Fandorin wartete ab, bis alle sich geäußert hatten, und wandte sich dann an Kochanowski: »Aloisi Stepanowitsch, es hat keinen Sinn, länger in Denisjewo zu bleiben. Der Starosta hat uns Hilfskräfte für die Zählung versprochen. Lassen Sie uns w-weiterfahren, ins nächste Dorf.«
    »Bravo, Kusnezow!« Jewpatjew schüttelte die Faust. »Da ist das Rezept! Wir müssen alle Siedlungen der Altgläubigen abklappern und mit den Alten reden. Ich habe im Schlitten eine Kodak. Bevor es dunkel wird, werde ich die Toten in all ihrer Schönheit photographieren. Und dann die Bilder herumzeigen. Abzüge kann man hier nicht machen, aber das tut nichts. Auf der Glasplatte sieht alles noch furchtbarer aus als

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