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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Zeit in Japan gelernt hatte.
    Der Schnee auf dem Eis war fest und gab ein wenig nach unterden Füßen, so wie der erwärmte Asphalt im August auf dem Broadway. Fandorin legte ein paar Mal einen Zwischenspurt ein und überholte den Schlittenzug, und dann dünkte ihn, er wäre ganz allein in dieser weiß-schwarzen Welt: nur Schnee und Wald und der Sternenhimmel über dem Kopf.
    So lief er eine Zeitlang, wurde wieder langsamer und ließ sich zurückfallen.
    Wenn er in keinen der Schlitten stieg, verfolgte er damit neben der Bewegung einen weiteren Zweck. In einem Schlitten mitzufahren, hätte bedeutet, sich selbst zum Gespräch mit nur einem Partner zu verurteilen, und sein Gespür sagte ihm, er müsse sich alle Mitglieder der »Sanitätsabteilung für Epidemieschutz« genauer ansehen. Nicht um schon eine Hypothese aufzustellen, dazu war es zu früh, aber er war es gewohnt, seinen Impulsen zu vertrauen. Das Beste war, von Schlitten zu Schlitten zu wechseln.
    Die Insassen des Schlittenzugs gaben sich zwei uralten russischen Vergnügen hin: dem Gesang und dem Geplauder während einer Reise. Fandorin kam der Gedanke: Erwächst nicht aus dieser Wurzel die gesamte heimische Literatur mit ihrer Bedächtigkeit, ihrer Erforschung der Seelen und ihrer grenzenlosen Entfesselung der Gedanken? Wo sonst konnte sich der Bewohner dieses ewig unfreien Landes frei fühlen? Nur auf Reisen, wo kein Gutsherr war, kein Natschalnik, keine Familie. Wo die Entfernungen gewaltig waren, wo die Natur rau war und die Einsamkeit unendlich. Du fährst im Bauernwagen, in der Postkutsche oder, besser noch, in der Schlittenkutsche – ein Ziehen geht durchs Herz, die Gedanken fließen frei. Wie sollten die Menschen sich da nicht einander öffnen? Man konnte ehrlich sein, aber auch sonst was daherschwatzen, hier kam es nicht auf Wahrhaftigkeit an, sondern auf das ausführliche Erzählen, denn man hatte es ja nicht eilig. Wenn die Gesprächsthemen versickerten, war es an der Zeit, ein Lied zu singen – auch ein langes, getragenes und von schlichter Philosophie:vom schwarzen Raben, von den zwölf Räubern und vom herunterbrennenden Kienspan.
    Im ersten Schlitten wurde nicht gesungen, dazu hatte sich nicht die richtige Gesellschaft zusammengefunden. Da wurde über Kluges gesprochen. Man warf Fandorin nur einen flüchtigen Blick zu und setzte das interessante Gespräch fort.
    »Dass der Mensch eine nicht allzu komplizierte soziale Maschine ist, weiß ich seit langem«, sagte Kryshow kopfschüttelnd. »Aber Ihre Idee von der biologischen Maschine ist mir neu. Das ist sehr, sehr interessant. Doch führt sie nicht in die Irre?«
    »Überhaupt nicht«, antwortete Doktor Scheschulin. »Und was die Biomaschine betrifft, so ist das keine Metapher, sondern ganz wörtlich gemeint. Die Nahrungsration, das heißt, die von außen erfolgende Zufuhr von chemischem Rohstoff plus die Wirkung der Hormone innerhalb der Organe, bestimmen ganz und gar den Charakter, die Handlungen und die persönlichen Eigenschaften. Ein edler Mensch ist einer, dessen hormonelle Balance gut reguliert ist und der mit der Nahrung keine asozialen und aggressogenen Giftstoffe aufnimmt. Ich zum Beispiel esse niemals das Fleisch frisch geschlachteter Tiere – es steigert die Bösartigkeit. Zur Nacht trinke ich niemals Tee, esse aber regelmäßig zwei Mohrrüben, weil das dem Gehirn hilft, sich während des Schlafs selbst von Depressionen zu reinigen. Soll ich Ihnen sagen, warum die nordrussischen Altgläubigen so anfällig für Selbstmord sind?«
    Fandorin, der schon vom ersten Schlitten zurückbleiben wollte, blieb noch, er war neugierig auf die Antwort.
    »Warum?«, brummte Kryshow.
    »Weil sie viel rohen Fisch essen. Das geschabte rohe Fischfleisch, das sie hier in enormen Mengen verzehren, stimuliert zwar sehr gut die Herztätigkeit, verzögert aber die Bildung des Vitapräservationshormons – der Terminus ist von mir. Ich habe das Vitapräservationshormon in meiner Arbeit ›Einige Besonderheiten derHypophysenfunktion im Licht der neuesten biochemischen Entdeckungen‹ beschrieben. Der Artikel hatte gewaltige Resonanz. Sie haben ihn wohl nicht gelesen?«
    Kryshow schüttelte den Kopf.
    »Und Sie, Herr Kusnezow?«
    »Ich hatte nicht das Vergnügen«, antwortete Fandorin höflich, lief langsamer und befand sich gleich darauf neben dem zweiten Schlitten.
     
    Hier gab es eine dermaßen lebhafte Diskussion, dass Fandorins Auftauchen aus der Dunkelheit unbemerkt blieb.
    Der Diakon zog mit beiden

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