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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Rechenschaft gezogen.«
    Aber der Untersuchungsführer stieß ihn schon mit dem Ellbogen an. Seitlich umgingen die Vertreter der Macht die finstere Menge und entfernten sich zum Platz. Dabei hatten sie es so eilig, dass sie Fandorin das Dokument nicht wieder abnahmen, das ja für die Untersuchung wichtig gewesen wäre – den Abschiedsbrief.
    »Ihr Herren, nehmt auch mich mit!«, rief der Dechant. »Ich hatte doch unterwegs das Unglück … Ihr Herren!«
    Er raffte die Kuttenschöße und wollte hinterherstürzen, doch die mutig gewordenen Dörfler von Denisjewo füllten schon den ganzen Hof und umstanden im Kreis die Toten.
    Vater Vikenti lief um das Haus herum und appellierte immer wieder an die Gesetzeshüter, auf ihn zu warten, doch zu spät – vom Platz her tönte, sich entfernend, das Klingeln der Glöckchen.
     
    Die Sanitätsabteilung für Epidemieschutz
     
    Aber Vater Vikenti hatte sich umsonst gefürchtet, es geschah nichts Schreckliches. Im Gegenteil, nach dem Rückzug der Behördenvertreter ließ die Spannung spürbar nach. In der Menge ballte niemand mehr die Fäuste, in die vordersten Reihen drängten Frauen, und die gefährliche Stille wich Seufzern, Weinen, Wehklagen. Der Gottesnarr zuckte nicht mehr, fraß nicht mehr Erde, er kroch zu dem toten Säugling und heulte leise, untröstlich.
    Masa reichte dem bleichen Kochanowski einen mit Salmiak getränkten Wattebausch. Warnawa murmelte schluchzend ein Gebet. Kryshow half dem Wachtmeister, der eine ungebleichte Leinwand über die Toten breitete.
    Fandorin aber horchte aufmerksam auf das Gespräch zwischen dem Herrn mit der Bibermütze und dem zweiten Unbekannten, der aussah, als wäre er gerade erst vom Newski-Prospekt in diese Waldödnis hereingeschneit, so fremd wirkte er hier – gepflegt, glattrasiert, mit Goldbrille und Persianerschapka in Form eines Brötchens.
    »Ach, ihr Herren Residenzstädter, ich habe euch ja gewarnt, die Glocke geläutet, ihr habt es nicht gehört«, klagte der Brillenträger bitter.
    Diese Worte weckten Fandorins Aufmerksamkeit.
    »Ich habe Ihren Artikel gelesen, ja. Ich habe ihn sogar in meiner Zeitung nachgedruckt«, antwortete der Herr mit der Bibermütze, ein hochgewachsener, stattlicher Mann um die fünfunddreißig mit gestutztem blondem Spitzbart. »Aber Sie wissen ja, wie es bei uns in Russland ist: Solange es nicht donnert, bekreuzigt sich der Bauer nicht.«
    »Ich habe nicht für die Bauern geschrieben«, warf der Glattrasierte gallig ein. »Sondern für Personen, die mit Macht ausgestattet sind. Mein Name ist in Wissenschaftlerkreisen gottlob hinlänglichbekannt, hätten Sie mal auf Scheschulin gehört. Als die Aufregungen gerade erst anfingen, habe ich vorausgesagt: Wenn nicht Maßnahmen ergriffen werden, kann es zu einer psychogenen Epidemie kommen, die Menschenopfer fordert! Schon im September habe ich gewarnt!«
    Das Gesprächsthema interessierte Fandorin so sehr, dass er es für angezeigt hielt, näher zu treten und sich vorzustellen. Der Herr mit der Persianerschapka war der bekannte Petersburger Psychiater Anatoli Iwanowitsch Scheschulin, der mit dem blonden Spitzbart der Wologdaer Industrielle Nikifor Andronowitsch Jewpatjew. Über ihn hatte Fandorin schon in der Residenzstadt erzählen hören, er entstamme einer Altgläubigenensippe, sei aber Progressist, habe in England Ökonomie studiert und den Magistertitel erworben. Er führe seine Geschäfte auf moderne Weise, lasse Aberglauben nicht gelten und gebe sogar eine eigene Zeitung heraus, die im russischen Norden überaus populär sei.
    »Als ich von dem Abschiedsbrief erfuhr, habe ich mich den Beamten angeschlossen«, erklärte er. »Ist das ein Unglück! Ein Schlag gegen alle Altgläubigen! Wegen ein paar Geisteskranker werden jetzt sämtliche Zeitungen über uns herfallen, uns als Wilde hinstellen, als Fanatiker … Und Doktor Scheschulin«, Jewpatjew nickte zu dem Psychiater hin, »versichert, das sei erst der Anfang. Er hat sich aus Petersburg herbemüht, um am Schauplatz der Ereignisse zu sein.«
    »Sie m-meinen, es wird weitere Selbstmorde geben?« fragte Fandorin schaudernd.
    Scheschulin nahm die Brille ab, pustete ein Stäubchen vom Glas.
    »Ohne jeden Zweifel. Mein Spezialgebiet ist die Wirkung der Suggestion auf die menschliche Psyche. Das Gehirn ist kein so komplizierter Mechanismus, wie man gemeinhin annimmt. Wie auch die anderen Körperorgane ist es hundertprozentig äußeren Einflüssen unterworfen. Die gefährlichste Form einer Epidemie

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