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Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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Anweisungen des Hausherrn wegen Chuntian«, murmelte sie.
         »Welche
denn?«, fragte Yazi erstaunt. Gewöhnlich beachtete ihr
Schwiegervater seine Enkelin kaum.
         »Sie
soll … sie soll keine Füße wie ihre Mutter haben«,
erklärte Laoshu zögernd.
         Yazi
begann zu verstehen. Die anderen Frauen der Familie hoppelten auf
winzigen Füßen durchs Leben und nannten sie einen
Bauerntrampel, weil sie gehen konnte wie ein Mann. Da Frauen hier
keine körperliche Arbeit verrichten mussten und die meiste Zeit
im Haus blieben, war ihre Gehbehinderung kein Problem. Sie hatte
gewusst, dass Chuntian diesem Ideal weiblicher Schönheit
unterworfen werden würde, doch war sie von einem späteren
Zeitpunkt ausgegangen.
         »Ist
es nicht zu früh? Sie kann doch kaum laufen.«
         Laoshu
nagte an ihrer Unterlippe.
         »Ich
glaube, eine der Frauen hat vorgeschlagen, dass man in Chuntians Fall
früher beginnen sollte. Weil … weil … wegen ihrer
Abkunft. Sie konnte den Hausherrn von dieser Idee überzeugen.«
         Yazis
Knie gaben nach und sie sank auf einen Schemel. Lange hatte sie
geglaubt, ihre Gleichgültigkeit sei ein sicherer Schutzpanzer
gegen alle Gemeinheiten, die durch die Gemächer krochen wie
Schlangen. Aber jemand hatte einen Weg gefunden, sie trotzdem zu
verletzen. Sie verschränkte die Arme, um sich zu wappnen. Früher
oder später hätte es ohnehin geschehen müssen.
         »Es
ist besser, damit zu beginnen, wenn das Mädchen noch sehr jung
ist«, fügte Laoshu auch schon hinzu. »Dann sind die
Knochen biegsamer. Sie wird weniger Schmerzen haben.«
         Yazi
verspürte einen Stich. Sie hatte nicht bedacht, dass die
Prozedur schmerzhaft sein konnte.
         »Es
wäre eigentlich deine Aufgabe, aber du weißt ja nicht, wie
es geht«, fuhr Laoshu fort. »Ich werde es machen. Geh am
besten eine Weile im Garten spazieren.«
         Yazi
bohrte ihre großen Bauernfüße in den Boden.
         »Ich
will dabei sein.«
         Laoshu
blickte zu ihren eigenen winzigen Füßen hinab.
         »Geh
hinaus. Es ist besser so«, sagte sie lauter und bestimmter, als
sie jemals mit ihrer Herrin gesprochen hatte. Eine unergründliche
Macht ließ Yazi gehorchen.
         Als
sie zurückkam, steckten Chuntians Füße in weißen
Bandagen. Das kleine Mädchen sah verwirrt aus, aber es tapste
seiner Mutter lächelnd entgegen. Es war alles nicht so schlimm,
befand Yazi. Chuntian würde lernen, sich auch mit eingebundenen
Füßen zu bewegen. Aus diesem Grund war es vielleicht sogar
gut, sehr früh damit zu beginnen.
         Doch
als die Dämmerung aufzog, saß ihre Tochter bereits
wimmernd in einer Ecke und zerrte verzweifelt an den Fesseln, die
ihre Füße einzwängten. Aus ihren Augen schrie die
stumme Frage, was sie getan hatte, um derart gequält zu werden.
         An
diesem Abend rannte Yazi regelrecht in Yingxiongs Gemächer, wo
sie wie immer erwartet wurde. Empört berichtete sie von dem
Zustand ihrer gemeinsamen Tochter, sah ihm dann erwartungsvoll ins
Gesicht. Nun würde sogleich eine Anweisung kommen, die Chuntian
von ihren Qualen erlöste. Aber er senkte nur den Blick.
         »Leider
müssen alle Frauen dies erleiden«, meinte er leise. »Sonst
finden sie keinen Ehemann.«
         »Aber
du hast mich auch mit großen Füßen genommen!«
         »Weil
ich deine Kraft spürte«, gab Yingxiong zögernd zu.
»Wir wissen nicht, ob Chuntian sie geerbt hat. Aber selbst wenn
dem so wäre, die meisten Männer fänden es eher
abschreckend als reizvoll.«
         Yazi
redete weiter, flehte und schrie, bis ein Diener zaghaft an die Tür
klopfte und darauf hinwies, dass sie durch das ganze Haus zu hören
sei, wo man allmählich zu schlafen wünsche. Aber ihre Worte
prallten an einer Mauer der Duldsamkeit ab, die Traditionen für
so selbstverständlich hielt wie den Lauf der Flüsse oder
den Wechsel der Jahreszeiten.
         In
dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Und zum ersten Mal seit Jahren
war ihre Hand nicht fähig, Yingxiongs Kopf zu streicheln. Er war
ein kluger und gutherziger Mann, wie sie mittlerweile wusste. Lange
hatte sie geglaubt, sich keinen besseren Gemahl wünschen zu
können. Doch nun wurde ihr klar, dass all seine guten
Eigenschaften nichts nutzten, weil sie mit Schwäche und
Ängstlichkeit einhergingen.

    ******

    Da
Chuntian noch sehr kleine Füße hatte, wurde ihr ein immer
engeres Zusammenziehen der Bandagen erspart. Dadurch würde

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