Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
die
ganze Prozedur insgesamt weniger schmerzhaft verlaufen, wie Laoshu
erklärte. Tatsächlich ließ das Wimmern des Mädchens
allmählich nach, auch wenn ein spitzer, verkrampfter Zug um
seinen Mund zurückblieb, der einen frühen Verlust der
Kindheit andeutete. Chuntian würde niemals über Wiesen und
Felder laufen können, wie Yazi es einst mit ihren Brüdern
getan hatte. Der Gedanke tat weh, aber Yazi lernte mit ihm zu leben,
denn ihrer Tochter war ohnehin ein Dasein in geschlossenen Räumen
vorbestimmt, wo sie auf seidenen Kissen sitzen würde, anstatt zu
arbeiten, bis jeder Knochen ihres Körpers schmerzte. Für
einige Monate kehrte wieder Frieden in ihr Leben ein. Sie verzieh
Yingxiong seine Weigerung, Chuntian zu helfen, denn gegen den Willen
seines Vaters hätte er ohnehin nicht viel ausrichten können.
Allmählich erwog sie, ihn selbst an die Notwendigkeit der
Zeugung eines Sohnes zu erinnern, um dadurch einen weiteren
Wutausbruch des Hausherrn zu verhindern. Nun, da sie wusste, wie viel
Freude ein Kind bereiten konnte, schienen die mit seinem Entstehen
verbundenen Unannehmlichkeiten ihr unwesentlich.
Doch
es sollte anders kommen.
******
Yingxiong
ließ eines Nachmittags nach ihr rufen und erklärte mit
etwas verkrampftem Lächeln, dass sie einen gemeinsamen Ausflug
unternehmen würden. Yazi blickte ihn fassungslos an. Einst hatte
sie davon geträumt, einmal wieder die Frauengemächer des
Hauses verlassen zu dürfen, doch nun war der Zustand des Lebens
hinter Mauern für sie so selbstverständlich geworden, dass
es sie fast ein wenig ängstigte, ihr gewohntes Umfeld zu
verlassen. Zudem war es im Hause der Rongs völlig unerhört,
dass Eheleute gemeinsam Ausflüge unternahmen.
»Wohin
gehen wir?«, fragte Yazi nun und stellte fest, dass Yingxiong
ihrem Blick auswich.
»Freunde
von mir wollen meine Hakka-Braut sehen. Sie kennen Leute wie dich gar
nicht, denn sie kommen aus dem Norden«, kam es dann mit unnötig
lautem Lachen zurück.
Yazi
verstand nicht, warum sie plötzlich vorgeführt werden
sollte wie eine seltene Tierart. Ihr Schwiegervater hätte keinem
anderen Mann einen näheren Blick auf eine seiner Konkubinen
gestattet, und es passte nicht zu Yingxiong, derart mit den Regeln
des Hauses brechen zu wollen. Doch je mehr sie überlegte, desto
größer wurde ihr Verlangen, endlich wieder einen Blick auf
die Welt außerhalb der Mauern des Hauses werfen zu können.
Sie stellte keine weiteren Fragen mehr, sondern kehrte nur kurz in
ihre Gemächer zurück, um sich für den Ausflug
herzurichten.
Vor
dem Eingangstor bestiegen sie eine bereits wartende Sänfte, und
Yazi spähte sehnsüchtig durch den Spalt, den die Vorhänge
ihr gönnten. Lange hatte sie erfolgreich verdrängen können,
wie sehr sie sich nach Freiheit sehnte, doch nun ging selbst von den
verdreckten Pfützen der Straße ein unglaublicher Reiz aus.
Sie stanken nach der großen, weiten Welt, die Yazi in den
letzten Jahren hatte entbehren müssen.
Die
Sänfte kam vor einem prächtig verzierten Haus zum
Stillstand. Yingxiong und Yazi wurden von einem Diener sogleich
hereingelassen und in einen Raum geführt, wo bereits großzügig
Speisen aufgetischt waren. Drei weitere Männer traten ein.
Yingxiong begrüßte sie mit krampfhafter Heiterkeit,
versicherte mehrfach, welch eine Ehre es für ihn sei, hier
empfangen zu werden, und wünschte den Gastgebern ein langes,
erfolgreiches Leben. Sein linkes Auge zuckte wieder heftig. Er
erinnerte Yazi an einen Hund, der schwanzwedelnd herumsprang, um
seinen Herrn gutmütig zu stimmen. Die drei Fremdlinge beachteten
ihn kaum. Sie waren größer und kräftiger als
Yingxiong, hätten mühelos körperliche Arbeit
verrichten können, doch ihre teure Kleidung und das hochmütige
Gebaren ließen auf eine vornehme Abkunft schließen. Ihre
Blicke ruhten neugierig auf Yazi. Sie empfand dieses Starren als
ebenso unangenehm wie die Berührung einer Schlange.
Ein
junges Mädchen spielte auf einem Saiteninstrument und sang in
einer Sprache, die Yazi nicht verstand, während das Mahl
verzehrt wurde. Der Reisschnaps wurde immer wieder tüchtig
nachgeschenkt, und nachdem die erste Karaffe leer war, brachte der
Diener sogleich die nächste. Yazis Magen schien zunehmend
unwillig, mehr von dem Getränk aufzunehmen, und sie füllte
ihn mit trockenem Reis, um einen weiteren Becher vertragen zu können,
denn eine Zurückweisung des Angebots wäre
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