Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
eigenartige Kreatur genauer anzusehen.
Obwohl
er blaue Hosen und eine schwarze Jacke in der Art gewöhnlicher
Bauern trug, war das Gesicht des Mannes fremd. Es kostete Yazi einige
Anstrengung zu begreifen, dass die Barbaren sich wie Chinesen kleiden
konnten, aber dadurch keine wurden. Sie blickte in ein Gesicht, das
weiß und unförmig wirkte wie ungebackener Teig. Blaue
Augen leuchteten sie an. Es schien ihr widernatürlich, dass ein
Mensch ähnliche Augen haben konnte wie die kostbare Katze von
Rong Dongjis Lieblingskonkubine.
»Ich
danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte die merkwürdige
Erscheinung in fehlerfreiem Mandarin. Yazis Welt geriet kurz aus den
Fugen. Angeblich waren Barbaren nicht in der Lage, irgendeine
chinesische Sprache zu lernen.
»Ich
wollte dem Händler eine kleine Statue abkaufen und gab ihm vier
Tael. Er nahm die Münzen an sich, lenkte mich kurz ab und meinte
dann, es seien nur drei gewesen.« Der immer noch auf dem Boden
hockende Fremde hob seine Handflächen. Yazi erkannte eine
Schwellung auf der linken Hälfte seines Gesichts. Außerdem
war der Ärmel seiner Jacke zerrissen.
»Ich
lasse mich nicht gern betrügen, obwohl es natürlich dumm
war, wegen eines Taels einen Streit zu beginnen, der dann noch in
einen Kampf ausartete«, sagte er. »Mit dem Händler
wäre ich wohl fertig geworden, aber er hatte Freunde in der
Nähe.«
Yazi
streckte die Hand aus und half ihm auf die Beine. Sobald er aufrecht
vor ihr stand, schien seine Größe schwindelerregend. Yazi
straffte energisch die Schultern. Eine Soldatin hatte stets und immer
die Fassung zu wahren.
»Ich
glaube Ihnen. Der Händler war ein Betrüger. Der Fall wird
dem himmlischen König gemeldet werden«, versprach sie. Es
schien ihr nicht wünschenswert, dass Nanjing bei Ausländern
den Ruf bekam, unter der Herrschaft der Taiping eine Räuberhöhle
geworden zu sein.
Der
Fremdling nahm dies recht gleichmütig zur Kenntnis.
»Ich
kenne den Namen des Mannes nicht, daher dürfte es schwer werden,
nach ihm zu suchen. Ich kann den einen Tael verschmerzen.«
Er
wischte den Straßenstaub von seiner Kleidung.
»Wie
kommen Sie nach Nanjing?«, hörte Yazi sich fragen, obwohl
es nun angebracht gewesen wäre, ihren Rundgang fortzusetzen. Sie
hatte es niemals für möglich gehalten, dass sie mit einem
dieser Fremdlinge würde reden können wie mit einem normalen
Menschen.
Der
große Mann lächelte sie auf eine sehr offene Art an.
»Meine
Gefährten und ich, wir kamen einfach durch ein Stadttor herein.
Wir wollen dem König der Taiping Waffen verkaufen. Gehören
Sie zu seiner Palastgarde?«
Yazi
neigte zustimmend den Kopf.
»Nun,
dann sehen wir uns vielleicht bald wieder.«
Der
Fremde lächelte nochmals und zeigte dabei seine unnatürlich
breiten Zähne. Yazi verstand nicht, warum sie ihn trotz seines
Aussehens keineswegs abstoßend fand.
»Ich
bewundere mutige Frauen, auch wenn sie manchmal sehr grimmige
Gesichter machen«, meinte er zum Abschied. In seiner Stimme lag
ein feiner, freundlicher Spott.
Yazi
verspürte einen Stich in ihrer Brust, eine seltsame Mischung aus
Empörung und befriedigter Eitelkeit.
******
Zwei
Tage später erschienen tatsächlich drei Fremde und baten um
eine Audienz beim himmlischen König, die ihnen sogleich gewährt
wurde. Hong Xiuquan hoffte immer noch, diese seltsamen Völker zu
seinen Verbündeten zu machen, da sie derselben Religion
huldigten. Yazi war inzwischen klar, dass jene Leute, allgemein Lao
Wai, ehrwürdiger Fremder, genannt, aber manchmal auch Yang
Guizi, fremder Teufel, durchaus die Macht besaßen, über
den Ausgang des Krieges gegen die Qing zu entscheiden. Aber ihr
Zögern, sich auf die Seite ihrer Glaubensbrüder zu
schlagen, zeigte bereits, was von ihrem Mut zu halten war. Die
Bereitschaft, mit der Hong Xiuquan ihnen stets die Palasttore öffnen
ließ, schien ihr inzwischen übertrieben.
Yazi
erkannte den weizengelben Haarschopf sogleich wieder. Seine zwei
Begleiter hatten etwas dunkleres, aber nicht wirklich schwarzes Haar.
Die unterschiedlichen Haarfarben waren bei Lao Wai notwendig, befand
Yazi. Ansonsten wäre es unmöglich gewesen, sie
auseinanderzuhalten, denn ihre Gesichter glichen einander in der
teigigen Blässe und Unförmigkeit.
Jener
Mann, den sie gerettet hatte, führte das Gespräch, denn
seine Begleiter
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