Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
die Kampfkunst zu lehren, waren bisher
enttäuschend verlaufen. Obwohl Chuntians Füße sich
normal entwickelt hatten, war sie ängstlich und ungelenk, schien
keinerlei Freude an körperlicher Ertüchtigung zu empfinden,
was Yazi nicht begreifen konnte. Sobald das Mädchen jedoch im
Lesen und Schreiben unterwiesen wurde, zeigte sie sich erstaunlich
begabt und verlangte bald nach anspruchsvolleren Texten, als ihr in
der Schule zur Verfügung standen. Yazi war durchaus stolz auf
die Lernerfolge ihrer Tochter. Sie würde die Beamtenprüfungen
ablegen können, zu denen nun auch Frauen zugelassen waren, und
trotz ihres Mangels an körperlichem Geschick gab es unter der
Herrschaft des himmlischen Königs genug Aufgaben für ein so
begabtes Mädchen. Doch würde es der kleinen Gelehrten nicht
schaden, einen Blick auf das harte, bodenständige Leben der
Landbevölkerung zu werfen, befand Yazi.
Sie
zogen im Morgengrauen los. Chuntian saß fröhlich auf ihrem
Pony. Sie schien sich weitaus schneller an Andrews fremdes Gesicht
gewöhnt zu haben als erwachsene Menschen es vermochten, lauschte
angeregt seinen Worten und plauderte munter drauflos. Yazi staunte,
denn für gewöhnlich hatte ihre Tochter ein sehr
verschlossenes Wesen. Fassungslos hörte sie, wie Andrew in
seiner merkwürdigen Muttersprache redete und Chuntian seine
Worte nachahmte. Aus ihrem jungen Mund flossen sie mit weicher
Geschmeidigkeit. Andrew lächelte zufrieden. Chuntian strahlte.
»Sie
haben eine bemerkenswert sprachbegabte Tochter«, wandte Andrew
sich an Yazi. Chuntian sah ihre Mutter erwartungsvoll an.
»Ja,
sie lernt sehr fleißig«, gab Yazi zu. Sie hielt nicht
viel davon, Kinder überschwänglich zu loben, denn das ließ
sie nur eitel und selbstgefällig werden. »Aber bei den
Kampfübungen war sie leider nicht so erfolgreich«, fügte
sie daher wahrheitsgemäß hinzu.
Ein
Schatten legte sich über Chuntians eben noch sehr glückliches
Gesicht. Andrew schwieg eine Weile nachdenklich.
»Kein
Kind kann all die Erwartungen erfüllen, die seine Eltern in es
setzen«, meinte er dann leise. »Menschen mit hoher
geistiger Begabung sind oft ungelenk, doch das ist nicht ihre Schuld.
Wir werden alle mit unterschiedlichen Talenten geboren.«
Yazi
spürte das Blut unter ihrer Haut pulsieren. Dieser Lao Wai maßte
sich an sie zurechtzuweisen! Doch auf Chuntians Gesicht spiegelte
sich wieder das Strahlen der Sonne.
»Es
ist doch möglich«, fuhr Andrew unbeirrt fort, »dass
dieses Mädchen nicht den kämpferischen Mut seiner Mutter
geerbt hat, sondern nach einem anderen ihrer Verwandten geraten ist.«
Yazi
versteinerte in dem Bewusstsein ertappt worden zu sein. Es hatte sie
in der Tat gestört, in Chuntian das nervöse, ängstliche,
kluge Wesen Yingxiongs wiederzuentdecken. Er gehörte zu der
alten Welt, die sie hinter sich hatte lassen wollen.
»Der
Vater meiner Tochter und ich haben keinen Umgang miteinander«,
erklärte sie. »Als Hauptmännin der königlichen
Garde kann ich meine Pflichten als Ehefrau nicht mehr erfüllen.«
Sie
verschwieg, wie erleichtert sie darüber war, der Kontrolle der
Rongs ganz und gar entkommen zu sein. Andrew neigte nur den Kopf.
Seltsamerweise hatte sie das Gefühl, er könne in die Tiefen
ihres Wesens blicken, so wie Wahrsager, wenn sie Leuten eine Zukunft
versprachen, die ihren Wünschen entgegenkam.
Doch
Andrew versprach nichts. Er plauderte nur weiter mit Chuntian, deren
Augen leuchtend an seinem teigfarbenen Gesicht hingen.
******
Die
Stadtmauer war noch in Sichtweite, als sie die ersten Behausungen
erreichten. Yazi erklärte Andrew, dass der himmlische König
das Land gerecht an alle Untertanen verteilt hatte. Auch Frauen
besaßen ein Recht auf Grundbesitz, sodass sie sich selbst und
ihre Kinder ernähren konnten.
»Bei
den Han-Chinesen war es üblich, dass Töchter und Ehefrauen
meist im Haus blieben«, fügte sie zufrieden hinzu. »Doch
Hong Xiuquan folgt der Tradition der Hakka. Ich habe schon als
kleines Mädchen auf den Feldern mitgeholfen, ebenso wie meine
Mutter und meine Schwestern.«
Sie
hob stolz das Kinn. Wie wohl es tat, in einer Gesellschaft zu leben,
wo Tüchtigkeit mehr galt als die nutzlose Zerbrechlichkeit
bildschöner Konkubinen! Yazi fiel ein, dass etliche der Frauen
im königlichen Palast durchaus dem traditionellen
Schönheitsideal der Qing entsprachen, aber sie
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