Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Im Lager der Taiping geschah
nichts ohne höhere Anweisung. Dann begann der König des
Ostens plötzlich mit einer sehr tiefen, brummenden Stimme zu
reden.
»Ich,
Huang Shangdi, der allmächtige Gott, habe vier Söhne. Ye
Su, der bereits an meiner Seite weilt. Hong Xiuquan, der auf Erden in
meinem Namen das himmlische Königreich errichtet. Mein dritter
Sohn war ein Held, der bereits im Kampf gefallen ist. Yang Xiuqing
ist mein vierter Sohn, der Hong Xiuquan als Ratgeber zur Seite
steht.«
Stimmengewirr
erklang. Pofu warf den ihr unterstellten Kriegerinnen zornige Blicke
zu, denn es war verboten, bei Empfängen unaufgefordert zu reden.
»Ich
bin nicht zufrieden mit dem Tun meines zweiten Sohnes«, sprach
die Stimme Gottes aus dem Mund des Königs des Ostens. »Er
hat sich der Trägheit hingegeben, ist nachlässig in der
Kontrolle seiner Untertanen und verbringt zu viel Zeit mit seinen
Frauen, von deren Wünschen er sich leiten lässt. Zur Strafe
für diese Unachtsamkeiten soll er vierzig Stockschläge
erhalten.«
Nun
wagte niemand mehr einen Ton von sich zu geben. Yazi hörte, wie
Pofu an ihrer Seite laut Luft einsog. Alle Blicke waren fassungslos
auf Hong Xiuquans Gesicht gerichtet. Vermutlich würde er die
Wache nun auffordern, den König des Ostens auf der Stelle
festzunehmen. Yazi überlegte, wie viele Anhänger Yang
Xiuqing inzwischen in der Stadt hatte. Unter Umständen drohten
jetzt Straßenschlachten.
Aber
der himmlische König erhob sich von seinem hohen Stuhl, um vor
dem König des Ostens auf die Knie zu fallen.
»Die
Stimme meines Vaters hat aus deinem Mund gesprochen. Ich füge
mich seinen Wünschen.«
Yazi
wurde leicht schwindelig. War dies wirklich die Stimme Gottes
gewesen, obwohl es geklungen hatte wie der Trick eines geschickten
Gauklers? Ratlos musterte sie die zwei Männer, denen zu
gehorchen ihre Pflicht geworden war. Zunächst war alles so
einfach gewesen, so klar und geradlinig. Der Kampf für das
himmlische Königreich führte sie in eine Schlacht nach der
anderen, zog Siege und Niederlagen nach sich. Doch hier im Palast
schienen merkwürdige Spiele im Gange, die wesentlich verworrener
und schwer zu durchschauen waren.
Hong
Xiuquan nahm seine Strafe hin, doch hörte Yang Xiuqing nicht
auf, die Stimme Gottes aus seinem Mund erklingen zu lassen. Ständig
wurden die Anweisungen des himmlischen Königs als fehlerhaft
entlarvt und daher korrigiert. Hong Xiuquans Laune verdüsterte
sich mit jedem Tag. Er schrie seine erste Gemahlin vor allen
Dienstboten an, dass sie entgegen göttlicher Anweisung immer
noch an Eifersucht litt. Jene unscheinbare Frau, die sich einst mit
einem kleinen Dorfschullehrer vermählt hatte und jetzt die
Gemahlin eines Gottessohnes war, ertrug seine Vorwürfe wie immer
mit demütig gesenktem Haupt. Doch auch die zahlreichen, betörend
schönen Konkubinen, die Hong Xiuquan im Laufe seines Siegeszuges
um sich gesammelt hatte, wurden nicht von seinen Wutanfällen
verschont. Manchmal trat er nach ihnen oder verletzte sie, indem er
mit Gegenständen um sich warf. Yazi fiel es zunehmend schwer,
einem König, der sich wie ein trotziger Junge benahm, den
notwendigen Respekt zu zollen.
Schließlich
traf eine weitere Delegation jener Fremden ein, deren heiliges Buch
Hong Xiuquan seine Bestimmung hatte erkennen lassen. Es hatte bereits
vorher Besuche von ihnen gegeben, doch waren diese enttäuschend
verlaufen. Aus irgendeinem Grund schienen die Barbaren aus der Ferne
nicht willens, Hong Xiuquan als zweiten Sohn ihres Gottes
anzuerkennen, und verweigerten ihm ihre Unterstützung. Yazi
hoffte, sie hätten sich nun eines Besseren besonnen. Sobald das
himmlische Königreich auf Erden errichtet war, würden die
kleinen Machtkämpfe endlich aufhören.
Doch
es kam nur zu einer kurzen Unterhaltung mit dem zweiten und dem
vierten Gottessohn. Danach zogen sich die unnatürlich großen,
kalkweißen und in grotesker, unbequemer Weise gekleideten
Gestalten wieder auf ihr Schiff zurück. Ein paar Briefe wurden
noch gewechselt, bevor sie abreisten.
Bei
der nächsten offiziellen Versammlung verkündete Huang
Shangdis Stimme aus dem Mund des Königs des Ostens, dass die
religiösen Texte aus der Fremde voller Fehler seien. Das Drucken
der Bibel sollte auf der Stelle eingestellt werden, bis sie
angemessen überarbeitet wäre. Nur die unmittelbaren Worte
des Herrn seien weiter zu
Weitere Kostenlose Bücher