Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Kinder fütterte,
»ist ausgebildete Krankenschwester.«
Marjorie
blickte kurz auf. Sie hatte ein rundes, weiches Gesicht mit zahllosen
Lachfalten an Augen und Mundwinkeln.
»Den
Armen zu helfen scheint mir die überzeugendste Art, den
christlichen Glauben zu verbreiten«, meinte sie nur, setzte
sich dann hin, um endlich selbst zu essen. Viktoria merkte, wie Yazi
die fremde Frau staunend musterte.
»Der
Mandarin erlaubt, dass hier Missionare leben?«, fragte Jinzi.
Er sprach etwas leiser als gewöhnlich und sehr schnell, als
koste es ihn Überwindung, mit anderen Lao Wai als Viktoria zu
reden.
»Nun,
eigentlich hätte er uns aufnehmen müssen, denn so will es
die englische Regierung«, erklärte Marjorie, bevor ihr
Mann zu Wort kam. »Aber uns schien es angebracht, sich bei ihm
vorzustellen und sein Einverständnis einzuholen. Er wirkte ganz
zufrieden, uns hier zu haben, obwohl es eigentlich seine Aufgabe
wäre, die einfachen Leute zu versorgen. All die Armut und die
Krankheiten, ich glaube, das wächst dem Mann über den Kopf,
auch wenn er es niemals zugeben würde.«
Sie
kicherte leise, während sie weitere Reisklumpen auf ihren
Stäbchen balancierte.
»Wir
bemühen uns, keinen Ärger zu machen«, fügte
James Frazer hinzu. »Die Traditionen der Leute zu achten,
soweit es möglich ist.«
»Alle
Traditionen?«, warf Yazi zaghaft ein. Marjorie schenkte ihr
einen wachen Blick.
»Na
ja, es ist manchmal schwer. Dieses Einbinden von Frauenfüßen
finde ich schrecklich, aber es den Leuten ausreden zu wollen habe ich
aufgegeben. Ich stelle hier so viele Mädchen wie möglich
als Bedienstete ein. Sie bekommen Essen und einen Schlafplatz, mehr
kann ich ihnen nicht bieten. Wenigstens werden sie dann nicht
verkauft, sondern bleiben in der Nähe ihrer Familien, die meist
froh darüber sind.«
Viktoria
musterte die Runde. Es waren in der Tat viele Mädchen aller
Altersgruppen versammelt, die gemeinsam mit den Frazers ihren Reis
verzehrten. Unterdessen wurde gekichert und getuschelt wie in einem
Mädchenpensionat. Viktoria merkte, dass sie auch hier viel
Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Sind
Sie verheiratet?«, meldete sich schließlich die älteste
Frazer-Tochter zu Wort. Marjorie warf ihr einen tadelnden Blick zu,
den sie gelassen hinnahm.
Viktoria
verneinte.
»Aber
Sie reisen in Begleitung eines gut aussehenden Mannes«,
entgegnete das Mädchen nur. Viktoria lachte etwas lauter als
notwendig.
»Eine
Frau heiratet nicht einfach jeden Mann, der gut aussieht«,
stellte sie die Dinge klar. Das Tuscheln wurde lauter. Die
Chinesinnen musterten sie nun mit etwas weniger Scheu und warfen
Jinzi ein paar schmachtende Blicke zu, die er völlig ignorierte.
»Meine
Freundinnen fänden es sehr aufregend, wenn Sie diesen Mann
heiraten würden«, sagte die Frazer-Tochter schließlich.
»Aber ich gebe Ihnen Recht. Es kommt nicht nur auf
Äußerlichkeiten an. Eine Frau sollte sich gut überlegen,
welchen Mann sie wählt.«
»Ellinor,
behalte deine Weisheiten für dich. Unsere Gäste brauchen
keine Belehrungen von einer Halbwüchsigen«, tadelte
Marjorie Frazer, was ihre Tochter aber nicht besonders beeindruckte.
Sie wandte sich den Chinesinnen zu, um ihre Meinung in deren
Landessprache genauer darzulegen. Viktoria lauschte neidisch der
melodischen Abfolge steigender und fallender Töne. Würde
sie jemals in der Lage sein, sich in diesem Land so mühelos
mitzuteilen? Kurz blickte sie zu Jinzi, der konzentriert seinen Reis
aß. Sie ahnte, dass dieses Gespräch auch ihn etwas
verlegen gemacht hatte.
Neben
ihm und Yazi entdeckte sie einige schmächtige Gestalten,
teilweise mit verkrüppelten Gliedmaßen. Gewöhnlich
hätte deren Anblick sie abgestoßen, doch herrschte hier
eine entspannte, fast heitere Stimmung, die alle Hässlichkeit
ein wenig milderte. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie weiter
Jinzi, der nun ein Gespräch mit einem alten, verschrumpelten
Mann begonnen hatte, dessen Knochen spitz aus seinem Körper
stachen. Durch die vielen Zahnlücken schoss ständig Spucke,
wenn der Greis redete. Sie bemerkte einen verkrampften Zug um Jinzis
Mund, als einige der Tropfen sein Gesicht getroffen hatten. War es
möglich, dass auch er sich zwingen musste, den Kranken und
Entstellten dieser Welt ohne sichtliches Entsetzen zu begegnen? Er
redete langsam, bemüht geduldig. Die Augen des alten
Weitere Kostenlose Bücher