Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
normalen
Rhythmus schlug.
Sobald
die Männer am Horizont verschwunden waren, brachte Jinzi den
Karren aber erneut zum Stillstand.
»Sie
fahren ohne Papiere los?«, herrschte er Viktoria an. »Warum
laufen Sie überall ohne Hut herum, damit alle können sehen
goldenes Haar?«
Viktoria
wurde schwindelig. Ein Kloß steckte in ihrer Kehle. Selbst wenn
sie eine Antwort auf diese Vorwürfe gewusst hätte, wäre
sie nicht in der Lage gewesen, zu sprechen.
Dewei
erklärte an ihrer Stelle, dass die Papiere gestohlen worden
waren und dass jeder Mensch manchmal seinen Hut vergessen konnte.
Dankbar drückte Viktoria seine Hand.
»Und
jetzt gib Ruhe!«, beendete Yazi entschieden das Gespräch.
»Ich habe keine Lust, bis Shanghai deine schlechte Laune zu
ertragen.«
Der
Karren fuhr endlich weiter und Jinzi hielt seinen Blick starr auf die
Straße gerichtet. Dewei erklärte Viktoria, dass sie von
den Soldaten eines Mandarins aufgehalten worden waren, die
herausfinden sollten, was eine Lao Wai allein mit drei Chinesen in
seinem Herrschaftsgebiet zu suchen hatte. Und dass sich in der Nähe
eine Mission befand. Jinzi hatte bestätigt, dass er eine junge
Missionarin, die aus Sympathie mit dem chinesischen Volk chinesische
Kleidung trug, dort hinbringen sollte. Durch diese Lüge war er
die Soldaten losgeworden, die ihn ebenso hätten verhaften oder
auch töten können.
»Und
warum sollten sie das tun?«, fragte Viktoria. Dewei hob ratlos
die Hände.
»Soldaten
können töten, wen sie wollen. Sie hätten denken
können, dass er dich entführt hat. Oder irgendetwas
anderes. Sie töten oft schnell, ohne viel zu denken.«
Viktoria
fiel plötzlich das Atmen schwer. In welch einem wilden,
rechtlosen Land reiste sie fast schutzlos herum! Sie sehnte sich
danach, endlich wieder unter Menschen zu sein, deren Verhalten sie
einschätzen konnte und vor denen sie ihr Äußeres
nicht verbergen musste.
»Wir
sollten wirklich zu dieser Mission fahren«, schlug sie daher
vor. »Wir können dort sicher übernachten. Und wer
weiß, ob der Mandarin uns nicht heimlich verfolgen lässt.«
Vielleicht,
so hoffte sie, gab es bei den Missionaren Kaffee zum Frühstück.
Jedenfalls wäre es ein Ort, an dem sie sich sicher fühlen
konnte.
Sie
hörte Jinzi murren, aber seine Mutter kam ihm zuvor.
»Das
klingt doch vernünftig«, erklärte sie. »Und ich
glaube, unser Gast sehnt sich danach, wieder ein paar Landsleute zu
treffen.«
Sie
lächelte Viktoria kurz an, deren furchtsame Verkrampfung dadurch
nachließ. Mit einer so klugen, verständnisvollen Frau an
ihrer Seite war sie auch unter Chinesen nicht völlig allein.
»Bei
den Missionaren lasse ich mir dann irgendein Papier ausstellen«,
sagte sie laut in Jinzis Richtung. »Ich glaube nicht, dass
kaiserliche Soldaten die europäische Schrift lesen können.«
Kurz
wandte er den Kopf und nickte. Wieder nahm sie einen überraschten
Ausdruck der Anerkennung in seinen Augen wahr.
******
Die
Mission war eine größere Ansammlung von Holzhütten am
Rand eines Dorfes. Sie wurde von Quäkern betrieben, einem
hochgewachsenen Mann mit Rauschebart, seiner rundlichen, energischen
Frau und ihren drei Töchtern, die alle chinesische
Bauernkleidung trugen. Zunächst einmal passte Viktoria daher gut
ins Bild. Sie wurde durchaus freundlich empfangen, und der Umstand,
dass sie allein mit drei gewöhnlichen Chinesen herumreiste,
schien kein großes Staunen auszulösen. Die Quäker
wirkten zu beschäftigt, um die Zeit für neugierige Fragen
aufzubringen. Gleich nach der Ankunft bei Einbruch der Dämmerung
wurden Viktoria und ihre Begleiter zum Abendessen eingeladen.
Chinesen und Westler saßen hier gemeinsam an einem großen
Tisch, was Viktoria erleichtert aufatmen ließ. Sie wollte nicht
wissen, was Jinzi zu dem Waisenhaus in Shanghai gesagt hätte.
»Wir
sind seit drei Jahren in China«, erklärte James Frazer mit
dem Rauschebart. »Zunächst lebten wir in einer Mission in
Kanton, aber die Art, wie dort mit Chinesen umgegangen wurde, gefiel
uns nicht. Daher brachen wir ins Landesinnere auf. Diese Mission gibt
es erst seit letztem Sommer. Das Wort Gottes zu predigen, dazu fehlt
uns meistens die Zeit. Aber viele Leute kommen zu uns, weil sie
hungern oder medizinische Hilfe brauchen. Marjorie«, er warf
einen Blick auf seine Frau, die gerade drei kleine
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